Inklusiver Chor
"Zärtlich und mit viel Gefühl"
Der Vorname Rosa passt zu ihrer Kleidung: Schwarzrosa geblümt sind ihre Leggings, weißrosa geblümt das Kleid, das sie darüber trägt, rötlich gefärbt das kurze Haar, pink die Fingernägel. Die 49-Jährige singt: "Junger Mann im Frühling, möchte nicht allein sein." Vielleicht denkt Rosa dabei an ihren Mann Dieter, dem sie vor ein paar Jahren per Megafon auf dem Fußballplatz einen Heiratsantrag gemacht hat. Beide arbeiten in einer Behindertenwerkstatt in Berlin, verpacken dort Autoteile.
Von Nina Schmedding (KNA)
In ihrer Freizeit singen sie bei den "Nogat-Singers" - einem inklusiven Chor der Lebenshilfe Berlin, der kürzlich von Altbundespräsident Christian Wulff mit der Plakette "Hier klingt's mir gut" ausgezeichnet wurde. Der Cäcilienverband, der tausende Kirchenchöre vertritt, prämiert damit Musikprojekte, in denen "Teilhabe gelebt" wird, wie es heißt.
Rund 320.000 Menschen mit geistiger Behinderung leben in Deutschland, etwa 7,8 Millionen Schwerbehinderte gibt es insgesamt. Vor mehr als zehn Jahren verabschiedete die UN eine Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die deren ganzheitliche und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft fordert.
Doch was bedeutet die Floskel "Teilhabe" eigentlich - zum Beispiel ganz konkret für diesen Chor? "Alle sind nett hier. Das Singen macht uns Spaß", sagen Rosa und Dieter. "Vor allem die Auftritte." Sie freuen sich schon auf den 17. Juni, wenn die Gruppe bei der Eröffnung der Special Olympics World Games im Berliner Olympiastadion singt. Chorleiter Michael Kuntze berlinert fröhlich: "Janz eenfach: Dit is family. Jeder passt auf den anderen auf und kümmert sich um ihn." Dann setzt er, ernsthafter, hinzu: "Mit Musik kann man einfach ausdrücken, wofür es keine Worte gibt. Sie verbindet die Menschen."
Rund 32 Mitglieder kommen durchschnittlich zur wöchentlichen Probe. Sie sind zwischen 19 und 82 Jahren alt, einige Sänger haben kein Handicap, viele eine geistige Behinderung. Das stellt Kuntze vor Herausforderungen: So können 80 Prozent der Teilnehmer nicht lesen. "Das Lernen der Texte funktioniert also nur durch Nachsprechen, immer und immer wieder", sagt Kuntze. Auch Zweistimmigkeit klappe nicht. "Wir punkten mit Interpretation - singen mal laut, mal leise, flüstern oder singen staccato."
Bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Chorprobe wird es im Probenraum - einem Gewölbekeller neben dem Neuköllner Sankt-Jacobi-Friedhof - trubelig und laut. Männer und Frauen rufen einander beim Vornamen, quatschen und essen ein Stück von dem Kuchen, den die 82-jährige Monika zu ihrem Geburtstag spendiert hat. Sie gehört zu den Beteiligten ohne Handicap, ist bereits seit zehn Jahren dabei und hat kürzlich auch ihre Freundin inspiriert mitzukommen, um sich abzulenken - ihr Mann ist vor ein paar Monaten gestorben. Sie sagt: "Es ist hier so frisch und unbeschwert. Die Menschen kommen einfach auf einen zu und sagen: 'Ich muss Dir mal was erzählen.' Das mag ich."
Die Lieder, die die Gruppe darbringt, sind gefühlvoll und eingängig, manchmal melancholisch. Zum Repertoire gehören "Kauf Dir einen bunten Luftballon" oder "Ganz Berlin träumt von der Liebe". Chorleiter Kuntze ist in der Probe mit vollem Körpereinsatz dabei, breitet die Arme aus, geht in die Knie: "Jetzt nochmal zärtlich, mit viel Gefühl - und dann allet schick", ruft er.
Musik, die von innen kommt
Als der Musiker vor mehr als zehn Jahren einen Auftritt als Sänger bei der Lebenshilfe in Berlin hatte, war er davon fasziniert, dass die Zuhörer seine Schlagerlieder plötzlich mitsangen - und vor allem, wie es klang. Für ihn war das der Impuls, einen inklusiven Chor aufzubauen. "Das waren einfach Töne, die ich selten so schön gehört habe", erzählt der 56-Jährige am Rande der Chorprobe. "Irgendwie kommt das sehr von innen."
Zwischen 200 und 300 integrative Bands gebe es in Deutschland, schätzt Thorsten Hesse von "Handiclapped - Kultur Barrierefrei", einem Verein, der barrierefreie Konzerte organisiert. Hesse hat vor einem knappen Jahr die laut Angaben bundesweit einmalige Initiative "pinc music" mitgegründet. Die Plattform versammelt rund 70 integrative Bands, die per Suchmaschine nach Bundesländern sortiert gefunden werden können.
"Es gibt wirklich sehr viele solcher Gruppen, die aber einfach nicht bekannt sind. Uns geht es darum, sie sichtbar zu machen", sagt er. Interessenten könnten dann die Band direkt kontaktieren und sie für eine Veranstaltung buchen. Das Projekt wird von der Kulturstiftung der Länder gefördert.
Es sei nicht leicht, das Besondere von integrativen Bands in Worte zu fassen, sagt Hesse. "Wenn man einen besonderen Act haben will, an den sich die Leute erinnern, ist das aber auf jeden Fall zu empfehlen. Bei integrativen Bands kommt das gemeinsame Erleben einfach sehr, sehr intensiv rüber."
Vielleicht auch dadurch, dass das Publikum gemischter sei - er habe schon erlebt, dass nach Aufforderung plötzlich zehn Leute aus dem Publikum auf die Bühne kamen und Luftgitarre spielten. "Bei einem 'normal verrückten' Publikum ist das doch undenkbar", sagt Hesse. Auch bei der Chorprobe der "Nogat-Singers" gibt es diese Impulsivität - beim Lied "Que sera" stehen plötzlich mehrere Paare in der Mitte des Raumes, singen - und tanzen im Walzertakt.
Autor:Katja Schmidtke |
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