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Folge 36 – 1992 und 1993
Der lange Arm der Staatssicherheit

Ein verrücktes Jahr liegt hinter uns. Ein Fegefeuer der Gefühle. Hass-erfüllte Dummköpfe liefen herum und legten Feuer. (…) Sie hetzten gegen Ausländer und Juden", blickt der Theologe und Journalist Siegfried von Kortzfleisch auf das Jahr 1992.

Von Dietlind Steinhöfel

Im September jenes Jahres berichtet die Kirchenzeitung von Demonstrationen vor Asylbewerberheimen, von "Steineschmeißern und Brandstiftern" in Rostock-Lichtenhagen. Hunderttausende demonstrieren daraufhin in mehreren Städten friedlich gegen Rassismus. Doch das Grauen ist nicht vorbei.

Auch 1993 gibt es Hass gegen Menschen, auch gegen Bosnier, die dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien entfliehen. In Solingen kommen fünf Mädchen und Frauen türkischer Abstammung durch einen Brandanschlag ums Leben. "Seit Solingen wächst die Ratlosigkeit und die Gefahr der Resignation", ist in der Kirchenzeitung zu lesen.

Große Betroffenheit löst 1993 der Mord an einem Schüler in Sondershausen aus. "Satansanbeter" töten den 15-jährigen Sandro B., einen Schulkameraden.

Ein großes Thema in jenen Jahren sind zudem die Stasi-Vorwürfe gegen kirchliche Mitarbeiter. Der lange Arm der Stasi hat das Land weiter im Griff. Ein hartes Urteil fällen Gerhard Besier und Stephan Wolf in ihrem Buch "Pfarrer, Christen und Katholiken" über kirchenleitende Persönlichkeiten. Propst Heino Falcke, den sie zu den wenigen zählen, die davon ausgenommen sind, sieht den Wert des Werkes in der Quellenveröffentlichung, benennt jedoch zahlreiche Fehler und Nachlässigkeiten.

Der Thüringer Landtagspräsident Gottfried Müller warnt vor einer undifferenzierten Beurteilung der evangelischen Kirche. Auch der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe, einst Kirchenjurist, gerät ins Visier. IM oder nicht? Denn oft, so ist zu lesen, werden Kirchenleute, die mit dem Staat verhandelten, als IM geführt, obwohl sie nichts unterschrieben haben. Ein Stasi-Oberst sagt im Untersuchungsausschuss aus, Stolpe sei keine "ergiebige Quelle" gewesen.

Heino Falcke kritisiert auf einer Diskussionsrunde Anfang 1992 im Augustinerkloster die Sensationsberichterstattung der Medien: "Es wird jede moralische oder politische Autorität in unserem Bereich kaputt gemacht. Das fing mit Christa Wolf an und ging dann über zu politischen Leitfiguren. Und jetzt ist die evangelische Kirche dran."

Beim Zusammenwachsen der Kirchen innerhalb der EKD bleibt der Militärseelsorgevertrag ein strittiges Thema. Auf der Thüringer Herbstsynode 1993 sprechen sich die Synodalen für eine Ablösung dieses Vertrages aus. Auch die anderen östlichen Landeskirchen lehnen die bundesdeutsche Vereinbarung ab, ebenso wie den Einsatz von deutschen Soldaten im Ausland.

Zum ersten Mal organisieren die evangelischen Ost- und Westkirchen gemeinsam einen Kirchentag. Im Juni 1993 kommen 125 000 Dauerteilnehmer zur Eröffnung nach München. "Nehmt einander an" ist das Thema. "Glaube und Heimat" schreibt: "Der ganze Kirchentag war eine Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit."

Fundstücke
Umstritten: Im November 1992 kündigt die Kirchenzeitung an, dass 1993 die Dresdner Frauenkirche abgerissen werden soll. Der Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gotteshauses ist umstritten.
Bischofswechsel: Landesbischof Werner Leich geht 1992 in den Ruhestand. Sein Nachfolger wird Roland Hoffmann.
Erste Bischöfin: In Hamburg wird 1992 mit Maria Jepsen erstmals in der evangelischen Kirche eine Frau ins Bischofsamt gewählt.
Bücherpastor: Pfarrer Martin Weskott rettet 1993 von ostdeutschen Müllkippen eine halbe Million Bücher vor dem Reißwolf. "Literarischer Schrott war das nicht", wird er in der Kirchenzeitung zitiert. Der Spenden-erlös von veräußerten Büchern geht an "Brot für die Welt" für Schulbücher in der Dritten Welt.
Umwelt: "Das Wort Umweltschutz ist nicht mehr populär", schreibt "Glaube und Heimat" im September 1993. Ein gesamtdeutsches Naturerbe sei in Gefahr. Auf der letzten Volkskammersitzung waren 14 Großschutzgebiete ausgewiesen worden, um "akuter Gefährdung durch Vermarktung und Zersiedelung" vorzubeugen. "Doch Investoren drängen in die reizvolle Landschaft."

Autor:

Online-Redaktion

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