Folge 34 – 1989
"Heilsame Unruhe" wird zur Bürgerpflicht
Das Neujahrswort des Thüringer Landesbischofs Werner Leich klingt in der Rückschau wie eine Vorahnung: "Auch 1989 kann nicht Ruhe die erste Bürgerpflicht sein, sondern heilsame Unruhe."
Von Dietlind Steinhöfel
Leich äußert sich als Vorsitzender des DDR-Kirchenbundes zu den neuen Reisebestimmungen, die am 30. November 1988 beschlossen wurden und am 1. Januar 1989 in Kraft treten. Geregelt werden Reisen ins Ausland – auch zu besonderen Anlässen zu Verwandten in die BRD, sowie "ständige Ausreisen".
Ausführlich wird über den konziliaren Prozess berichtet. In Dresden findet im April die dritte "Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" der DDR statt, die erste europaweite Versammlung in Basel im Mai 1989. Beim Sekretariat der Versammlung in Dresden gehen 1380 Zuschriften ein, die meisten zu den Themenkreisen "Auf der Suche nach einer neuen Lebensweise in der bedrohten Schöpfung" und "Mehr Gerechtigkeit in der DDR". Umweltprobleme sind zudem ein durchgängiges Thema in der Kirchenzeitung, ob es um "Eine Mark für Espenhain" geht, die Zerstörung von Wald durch die riesigen Schweinemastanlagen bei Neustadt/Orla oder die Brandrodungen in Brasilien.
Im Juli ist Kirchentag in Leipzig. 50 000 Menschen kommen zur Hauptversammlung. Junge Leute wollen zwei Themen mit Transparenten einbringen: die Verbundenheit mit den Studenten in China – deren Protest auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig endet – und den Verlauf der Kommunalwahlen im Mai. Da die Themen nicht vorgesehen sind, werden sie von kirchlichen Ordnern abgedrängt.
Mit den Vorkommnissen in China befasst sich auch der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates und drückt die Hoffnung aus, dass "trotz der gegenwärtigen Lage das Verlangen des chinesischen Volkes nach Gerechtigkeit erfüllt werde".
Das Thema Nummer eins im Jahr 1989 ist die Ausreiseproblematik: Ausreiseanträge, Besetzung der Ständigen Vertretung in Berlin, die Flucht über Ungarn, Prag. "Hilflos sehen wir zu, wie sie gehen", schreibt die Kirchenzeitung. Die Ausreisenden hinterlassen Lücken – in der Pflege, in den Betrieben; junge Menschen erzählen von Trauer über Freunde, die sie verlassen. In Weimar wollen fünf Menschen durch die Besetzung der Stadtkirche ihre Ausreise erzwingen. Der damalige Superintendent Hans Reder holt staatliche Organe zur Räumung der besetzten Sakristei, was große Empörung auslöst.
Im September wird ein Brief der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen an den Vorsitzenden des Staatsrates abgedruckt. Darin wird "erneut und dringlich" um eine "offene und wirklichkeitsnahe Diskussion über die Ursachen von Unzufriedenheit und Fehlverhalten in unserer Gesellschaft" gebeten.
Im Oktober wird über die Friedensgebete und Demonstrationen in Leipzig und Dresden berichtet. Am 23. Oktober sind es in Leipzig mehr als 300 000 Demonstranten. In Arnstadt wird Anfang Oktober eine Demonstration von Polizisten mit Schlagstöcken aufgelöst, in Ilmenau werden Jugendliche "zugeführt" und verhört. Auch über die neuen Bewegungen wie "Neues Forum" und "Demokratischer Aufbruch" wird informiert.
Mit dem Mauerfall am 9. November kommen "Demonstrationen" anderer Art: eine Flut an Westbesuchen. Die Hoffnung keimt, dass die Chance in der DDR besteht, "als freie Menschen mitzuwirken an einem tiefgreifenden Prozeß revolutionärer Wandlungen", wie Gottfried Müller es in einem Kommentar beschreibt.
Fundstücke
Gebirgsschlag: Als es am 13. März im Kalibergbaugebiet an der Werra zu einem Gebirgsschlag kommt, wird auch die Kirche in Völkershausen stark beschädigt. Die Glocken können per Hubschrauber aus dem einsturzgefährdeten Turm gerettet werden.
Müntzer-Jahr: Zum 500. Geburtstag Thomas Müntzers wird vom 8. bis 19. Juni 1989 ein Kongress vorbereitet zum Thema "Unsere Gegenwart und Gottes Zukunft – Müntzers Herausforderung als Anfrage an Kirche und Gesellschaft heute". Leben und Werk Müntzers sei für die evangelische Kirche "nach wie vor ein sperriges Erbgut".
Freidenker: Die Ankündigung der Gründung eines "Verbandes der Freidenker in der DDR" wirft Fragen auf. Gilt auch für diesen Verband die Trennung vom Staat, oder wird er die staatlichen Wege nutzen – wie Schule, FDJ, Betriebe? Die Befürchtung, dass der Verband stärker antikirchlich ausgerichtet sein wird als bisher zugegeben, bedenkt ein Kommentar.
Brief aus Weimar: Der Chefredakteur von "Glaube und Heimat", Gottfried Müller, verfasst im September mit drei weiteren CDU-Mitgliedern den "Brief aus Weimar", um Reformen innerhalb der Ost-CDU anzustoßen.
Autor:Online-Redaktion |
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