Folge 3 – 1928 und 1929
Mission, Landflucht und Frauenordination
In seinem Neujahrswort in der Kirchenzeitung von 1928 beklagt Landesoberpfarrer Wilhelm Reichardt: "Die Bibel ist heute nicht mehr das Buch, das Lebensbuch, Hausbuch, Volksbuch, ist im besten Falle Schmuckstück in der Bücherei … sie wird gekauft, verschenkt, aber wenig gelesen."
Von Dietlind Steinhöfel
Sein Wunsch: Die Thüringer mögen wieder mehr die Bibel lesen. So war es folgerichtig, dass "Glaube und Heimat" im Laufe des Jahres mehrere Anleitungen zum Bibellesen brachte. Auch einem Leser wurde Antwort zuteil, der klagte, dass er trotz Bemühens nichts verstehe.
Bibellesen und eine Serie über Luthers Katechismus gehören zum großen Thema "Innere Mission", das die Thüringer Kirche bewegt. So geht im Sommer 1928 ein ausgedienter und neu aufgebauter "Zigeunerwagen" als "Evangeliumswagen" auf Reisen, gezogen von einem Pferd, mit dem zwei Evangelisten durch Thüringen fahren. Mit Erfolg, auch wenn in Rositz Freidenker massiv stören, und die Männer sogar tätlich angreifen, sodass der Wagen versteckt und am dritten Tag die Mission in eine Kirche verlegt werden muss.
Im Folgejahr ist eine Zeltvolksmission drei Wochen lang unterwegs: in Apolda, Eisenach, Gera und Sonneberg. "Es fanden viele den Weg ins Zelt, die schon lange keine Kirche mehr von innen gesehen hatten." Bei einem Besuch "englischer Kirchenmänner" findet die Innere Mission großes Lob: "Was die Deutschen ›Innere Mission‹ nennen, scheint eine zentrale Organisation für alles das zu sein, was unsere Zeit von den Jüngern Jesu Christi erwartet."
Die Thüringer Kirche hat laut Kirchenzeitung als erste die "Innere Mission" in ihrer Verfassung verankert. Im März 1928 geht das neue Thüringer Gesangbuch in Druck, erfreut und ruft Widerspruch hervor, weil zum Beispiel manche Lieder mit anderer Melodie erscheinen als gewohnt. Der Grund: Zuvor gab es zum Teil unterschiedliche Melodien, das wurde nun angeglichen.
Sorge machen der Redaktion die Landflucht und die Not der Bauern ebenso wie die immer noch große Wohnungsnot. Zudem setzt sich die Kirche für die Jugend ein, mahnt die Unternehmen, den Jugendlichen mehr Urlaub zu geben. Oft haben sie nur einen oder zwei Tage im Jahr, die wenigsten mehr als eine Woche. Und nicht immer ist der Urlaub bezahlt. Berufstätige junge Frauen werden zu Rüstzeiten eingeladen.
Der Landeskirchentag (Synode) beriet im Juli 1929 über den Umgang mit Ausgetretenen und beschließt, dass für sie keine kirchliche Bestattung infrage komme. Für "treugebliebene Hinterbliebene" sei eine Andacht im Hause möglich. Zudem wurde die Ordination von Frauen geregelt. Die "Pfarrgehilfinnen" wünschten weiterhin, den Titel "Pfarrerin" zu führen und das Recht auf das Spenden der Sakramente zu erhalten, was keine Mehrheit fand. "Was diesmal nicht gelang, kann später werden", so der Bericht.
Fundstücke
Wohnungsnot: Auf eine 5-köpfige Arbeiterfamilie kommen in Amerika 5 Wohnräume, in England 3 Räume, in Frankreich 2,5 und in Deutschland 1,4 Wohnräume.
Theologinnen: Im Jahr 1929 studierten in Deutschland 140 Frauen Theologie. "Die Zahl ist in dauernder Zunahme begriffen."
Mahatma Ghandi, bezeichnet als der "Christus der indischen Landstraße", wird mit den Worten zitiert: "Als erstes würde ich raten, dass die Christen, alle miteinander, anfangen müssen, wie Jesus Christus zu leben. (…) Wenn ihr in dem Geiste eures Meisters zu uns kommen wollt, können wir euch nicht widerstehen."
Wolgadeutsche: Beklagt wird das Elend von 10 000 russischen Bauern deutscher Herkunft, die vor dem Hungertod stehen. Viele stehen an der Grenze und wollen nach Deutschland. Es wird für sie um Spenden gebeten.
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Autor:Online-Redaktion |
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