Folge 5 – 1932 und 1933
Von der Depression zur fatalen Euphorie
Landesoberpfarrer Wilhelm Reichardt drückt die Situation in Deutschland drastisch aus: "Wir stehen am Abgrund."
Von Dietlind Steinhöfel
Die steigende Arbeitslosigkeit – 1932 wuchs sie auf über sechs Millionen – ist eines der großen Themen. Vor allem im Thüringer Wald leiden die Menschen. Dort sind 80 bis über 90 Prozent ohne Arbeit. Immer wieder wird um Sach- und Geldspenden für sie gebeten. In der Adventszeit ruft die Kirche auf, beim Kauf von Baumschmuck und Spielzeug auf Thüringer Produkte zu achten. 25 000 Menschen verlassen jährlich Thüringen, "weil das Land sie nicht ernähren kann". Doch auch von "wirklichen Tatchristen" ist die Rede: 100 Thüringer Kinder werden in einer Kinderverschickung von Familien in Schwaben zur Erholung aufgenommen.
Politisch zeichnen sich düstere Zeiten ab: In den Landtagswahlen 1932 und 33 legt die NSDAP deutschlandweit exorbitant zu. Thüringen erhält die erste nationalsozialistische Regierung mit dem leitenden Staatsminister Fritz Sauckel. Adolf Hitler kandidiert zur Reichspräsidentenwahl im März. Zuvor war er in Braunschweig zum Regierungsrat ernannt worden, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen, die Voraussetzung für die Kandidatur war.
Ein weiteres Thema ist Not der Wolgadeutschen und die Verfolgung von evangelischen Pfarrern in Sowjetrussland. Die Kirchenzeitung spricht von "Vernichtung des Deutschtums". Etwa 30 Pfarrer wurden gefangen genommen. Josef Stalin verfolgt alle Kirchen vehement. Er lässt die "grandiose (orthodoxe, Anm. d. R.) Erlöserkathedrale in Moskau" am 5. Dezember 1932 sprengen.
Im März 1933 gewinnt die NSDAP die Reichstagswahl. Der Thüringer Landeskirchenrat schreibt: "So begrüßt es die Kirche aufs freudigste, daß jetzt die Staatsgewalt Maßnahmen trifft zur Reinigung und Erneuerung unseres Volkslebens und zur Erhaltung der Ehrfurcht, was unserem Volke heilig bleiben muss."
Innerhalb der evangelischen Kirche gewinnt die Bewegung "Deutsche Christen" an Gewicht und dominiert den Thüringer Landeskirchenrat. Die Forderung nach einer "Reichskirche" die den Kirchenbund ablösen soll, wird laut und schließlich umgesetzt. Das zentralistische System des Staates wird übernommen. Pfarrer Ludwig Müller wird im Oktober 1933 Reichsbischof der neuen "Deutschen Evangelischen Kirche" mit einem "Geistlichen Ministerium" und der Nationalsynode.
Der Thüringer Landeskirchentag beschließt ein "Ermächtigungsgesetz", das erlaubt, Gesetze auch ohne Zustimmung des Landeskirchentags einzuführen. Zudem wird verfügt, dass eine kirchliche Trauung bei unterschiedlichen "Rassen" versagt werden könne, wenn die "sittlich hochstehende eheliche Gemeinschaft" gefährdet sei.
Hitler wird als "Führer, den Gott uns gesandt hat" bezeichnet. Wie selbstverständlich wird über die Verordnung Hitlers über die "Volksgesundheit" berichtet und aus "Mein Kampf" zitiert.
Fundstücke
Frauen: Mit Demonstrationen fordern Frauen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. In einer Kirchenzeitungsnotiz wird der illegale Abbruch auf 2000 bis 3000 täglich geschätzt. Viele Frauen sterben an den Folgen. Ernst Otto entgegnet in einem Leitartikel: "Dein Körper gehört nicht dir selbst".
Ordinierte Theologinnen dürfen nur in "geschlossenen Anstalten" tätig werden. "Am 10. Januar wurde Pfarrhelferin Auguste Begemann als Prediger und Seelsorger im Frauengefängnis Gräfentonna eingeführt."
Schriftleitung: Mit der Nr. 45/1932 übergibt Pfarrer Ernst Otto die Schriftleitung (Chefredaktion) der Kirchenzeitung an Pfarrer Lothar Thomas, der jedoch bereits im Oktober 1933 von Studienrat Dr. Wilhelm Bauer abgelöst wird, welcher der Bewegung "Deutsche Christen" angehört.
Landesbischof: Im Juli 1933 wird aus dem Titel Landesoberpfarrer der Landesbischof.
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Autor:Online-Redaktion |
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