500 Jahre Gesangbuch

Darin: Passionslied O Haupt voll Blut und Wunden

Eine Gesangbuchgröße! Vor 400 Jahren die Melodie, vor ungefähr 375 Jahren dazu der Text, fast 300 Jahre Kernstück der bachschen Matthäuspassion, seit 120 Jahren ebenso etabliert als Choralkantate von Max Reger, nunmehr 20 Jahre Zunahme verschiedener Interpretationen bei Youtube und Spotify. Was zeigt das in Bezug auf die großen melodiebasierten Bilder des Dichters? Sehr deutsches Denken und Dichten? (1) Oder auch internationales Interesse? (2) Kunst? (3) Oder Kitsch (4) Hochkultur? (5) Oder doch eher Frömmelei? (6)

Wie dem auch sei: Gerhardts Karfreitagsdüsternis mit ihrer Ostermorgendämmerung berührt. Vor der Golgotha-Szenerie mit Pieta zerreißt der Tempelvorhang, wird der Stein fortgerollt und zeigt sich ein Weg ins Kommende. Er ist wahrhaftig auferstanden! Klare Todeserfahrung verbindet sich - schemenhaft - mit Auferstehungshoffnung.

Paul Gerhardt hat uns keinen Predigttext hingehalten, kein Gedicht geschrieben, sondern eine vorhandene Melodie bebildert. Auf dass wir sie hörend und mitsingend erfühlen.

Nicht aber: Dass wir sie schauen müssen, dafür Bilder aufgedrückt bekommen, von uns Gefühlaufschub und Play verlangt wird, und wir hinterher weiterklicken… Sondern: Dass wir hören und mitsingen, unsere eigenen inneren Bilder wecken, mitfühlend innehalten und zurückspulen, ins Beten kommen können.

Denn sie, die sich selbst vor Gerhardts Szenerie stellen, mit Altar im Hintergrund (7), nett (mit Vergreifen auf der Gitarre) (8), "Like a Prayer" (wenn auch mit Liebe vorgetragen) (9) oder als Johann-Sebastian-Bach-Fanclub (10), schieben sich ins Bild, und stehen unserem Hören, unseren Bildern, unserem Fühlen unserem Beten im Wege. Dass ist auch bei Mel Gibsons "Passion" (mit Musikunterlegung) oder Andrew Lloyd Webbers "J.C. Superstar" (auf Musik montiert) nicht viel anders.

Bitte hören Sie lieber, aktiv! Und singen Sie –gern leise – mit! Denn dann werden Sie sie vor Ihr inneres Auge bekommen, die großen Gerhardtschen Bilder:
Den Gottesknecht und Schmerzensmann, den ge- und erschlagenen Gott (vier Strophen lang). Die Mutter, die Sie geboren und großgezogen hat, an Brust und durch ihr Hören, mit Liebe und für den Geist, als Martha und Maria (5. Str.). Die Pieta, die im toten Sohn noch das menschgewordene Kind in der Krippe und gleichzeitig den Wegbereiter für die Ewigkeit auf dem Schoss hält (6. Str.). Wie ein Jünger, der am liebsten auch hier gleich eine Hütte bauen würde (7. Str.). Danken Sie dafür (8. Str.)! Halten Sie das "Scheiden tut weh" aus. Ja, sogar die sorgenden Ängste Gottes selbst (9. Str.)! Denn es liegt nicht nur ein Muss, sondern auch ein Wohl im Tode, im Gehen, im Sterben; eine Wiederannäherung, ein Nahekommen, eine Erdung unseres Lebens (10. Str.).

(1) Deutsches Dichten? https://open.spotify.com/intl-de/track/3D12x7R20NYihuiMTza7Nw?si=12bd47a4170d4d39
(2) International von Interesse? https://open.spotify.com/intl-de/track/4QAZx3g1K6UU53aZhTg4Ch?si=7574e6fb8e584096
(3) Große Kunst? https://open.spotify.com/intl-de/track/2jRxnoyzhll2I6JLtSsYdz?si=007cd9a168de499c
(4) Kitsch? https://open.spotify.com/intl-de/track/3UH8Qo28BlCDO9tYBB6qXG?si=75aea83951ca4a58
(5) Hochkultur? https://open.spotify.com/intl-de/track/1Cxe5niqp4H95zQa6aedZf?si=09900e0c8b634582
(6) Frömmelei? https://open.spotify.com/intl-de/track/6pEVAsc9hivxgYmolfIJ2Z?si=088ac61dcaf241ef

(7)  https://www.youtube.com/watch?v=Kjd1R2YNOKQ
(8)  https://www.youtube.com/watch?v=3fZeRrgmRkM
(9)  https://www.youtube.com/watch?v=0tKp306d7iY
(10)  https://www.youtube.com/watch?v=3fP-rET0kFI

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