TAG
ALLER SEELEN
"Zur Fahrt durch bessre Fluten aufgezogen
hat seine Segel meines Geistes Kahn.
Und lässt nun hinter sich die schlimmen Wogenzum zweiten Reiche geht des Sanges Bahn
Wohin zur Reinigung die Geister schweben,
um würdig sich dem Himmelreich zu nahn."
So dichtet Dante Alighieri, als er die einzelnen Kreise der Hölle endlich absolviert und dort mutig in das Grauen des Grauens geschaut hatte. Nun aber darf er aus der Hölle zum Himmel schreiten. Doch nach dorthin führt der Weg den noch nicht Vollkommenen erst einmal über die vielen Windungen und Schleifen des Läuterungsberges - oder anders gesprochen direkt durch ein reinigendes Feuer, das als Fegefeuer bekannt ist.
Der französische Historiker Jacques Le Goff (1924-2014) hat sich mit der mittelalterlichen Lehre von diesem besonderen Brande ausführlich beschäftigt und schreibt: „Die erste prägende Erfahrung mit dem Mittelalter wurde mir im Alter von zwölf Jahren durch die Lektüre des Ritterromans Ivanhoe von Walter Scott geweckt. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs war ich vom romantisch-verklärten England des 12. Jahrhunderts fasziniert, weil das Mittelalter die nahezu magische Kraft besaß, mich in ein fremdes Territorium zu versetzen, mich aus den Wirrnissen und Unzulänglichkeiten der Gegenwart herauszureißen und sich mir damit gleichzeitig erregender und klarer zu präsentieren.“ Eine der präzisen historischen Untersuchungen, die wir Jacques Le Goff verdanken, ist sein Buch „Die Geburt des Fegefeuers - Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter” aus dem Jahr 1984.
Ja, das stimmt. Das Mittelalter hat tatsächlich die Kraft, uns aus den modernen Unzugänglichkeiten in ein fremd erscheinendes Territorium zu versetzen, das unserer Seele aber gut tut. Es ist allerdings nicht irgendeine terra abscondita gemeint, kein fremder Erdteil - auch kein anderer Planet. Wir werden durch die mittelalterliche Lehre vom Purgatorium in eine uns innert zugehörige Bild- und Seelenlandschaft geführt, weil das Mittelalter (ganz egal wie eng oder weit wir dessen zeitliche Begrenzung stecken wollen) die Seele mehr anzusprechen scheint als der dürre Rationalismus der Neuzeit. Filme wie „Herr der Ringe” und natürlich „Harry Potter”, die Bücher von Tolkien und C.S.Lewis geben Beispiel genug. Wenn es künstlerisch um das Mittelalter geht, geht es auch immer um Seele. Und wenn es um Seele geht, dann geht es auch um Ort und Zeit bzw. Dimension für den Aufenthalt derselben vor bzw. nach dem Tod ihrer körperlichen Behausung. Und wenn es genau darum geht, dann kommt die alte kirchliche Lehre vom Fegefeuer oder Purgatorium ins Spiel.
Ja - ins Spiel! Denn diese Lehre hat - wie übrigens alle Erörterungen über sogenannte letzte Dinge - etwas dezent Spielerisches an sich. Und wenn es - Gott sei Dank - ein Spiel sein könnte, dann kommt es wohl auch darauf an, darinnen zu gewinnen - egal, wie lange man spielen muss und wieviele Runden das Spiel einem zumutet. Hauptsache, dass man gewinnt. Gespielt wird hier einmal nicht gegen andere Teilnehmer, sondern man spielt gegen sich selbst und das Werk, das die Zeit mit einem im Laufe des Lebens verrichten durfte. Und deshalb! geht es um Reinigung, um Vervollkommnung und um die Gnade, zur seligen Schau des Göttlichen schließlich doch noch durchzudringen - nachdem man vorher alles Hinderliche, das man im Leben nicht hatte ablegen können, nun mit Hilfe eines nicht näher beschriebenen inneren Feuerwaltens abtun durfte. Dazu hatte die Alte Kirche im Hochmittelalter ihre Lehre vom Fegefeuer eingeführt, im Tridentinum vorsichtig weiter präzisiert und auch in moderner Zeit nicht aufgegeben.
Heute am 2. November ist der Allerseelentag. Man brennt auf den Gräbern der im christlichen Glauben Entschlafenen Lichter an und betet für sie - ruft sich jeden Einzelnen in Erinnerung, bittet sie vielleicht wieder einmal um Vergebung und vergibt ihnen selber, wenn es etwas zu vergeben gab. Beides ist so oder so ja meistens der Fall, weil wir Menschen sind. Der Priester wandelt singend über den Kirchhof und besprengt die Gräber mit Weihwasser aus der Kirche. Klar - das hat alles etwas Romantisches und natürlich reicht diese Romantik bis ins Mittelalter zurück, als die Toten noch da waren, auch wenn sie nicht mehr am stürmischen Lebenskampf teilnehmen mussten.
Das obige Bild stammt von der Künstlerin Diana Wehmeier, die sich nach dem Studium der Theologie, Malerei und Physik in Kalifornien niedergelassen und ist dort mit den indigenen Bräuchen Nord- und Mittelamerikas vertraut gemacht worden. Sie malte die Seele in der Art der Meerjungfrau Hans Christian Andersens. Sitzend am Gestade von unbestimmter Zeit zu bestimmter Ewigkeit - noch mitten im Zwischenreich. Kein Gerippe, sondern die Struktur der menschlichen Gestalt, die Gott geformt und mit Geist belebt und dadurch beseelt hatte. Erdverhaftet am Boden und noch mit dem Fischschwanz von ganz, ganz früher. Und es schaut die Seele in den Bereich der Citrinitas, so heißt die grüngoldene Farbe, welche die letzte Stufe der alchimistischen Läuterung anzeigt. Wenn diese Farbe im Glase erschien, galt das Opus Magnum als gelungen, der Lapis Philosophorum war aus-christallisiert (sic!), das Elixier gewonnen und die letzte Stufe vor dem Elysium genommen.
Es ist ein Zeichen der Achtung den Verstorbenen gegenüber, wenn wir für sie betend eintreten und darum bitten, dass ihre Wartezeit in den läuternden „Flammen“ verkürzt werde. Denn geläutert zu werden geschieht nicht ohne die berechtigte Hoffnung, dass die Läuterung auch gelingt. Läuterung geht - hier oder dort - nicht ohne Lernen. Und Lernen ist oft auch Leiden. Dabei tut gut, wenn der Schmerz nachlässt. Sagt der Volksmund. Die Lehre vom Fegefeuer ist alt. Sie saugt ihre Kraft zu großen Teilen auch aus pagan-vorchristlicher Zeit. Sie ist sicher auch missbraucht worden, wie alles Starke missbraucht worden ist - und das hat der Reformation den Weg mitgeebnet. Deshalb haben in den liturgischen Formularen der Protestanten die Gebete für die Seelen im Fegefeuer bald keinen Platz mehr haben sollen. Romano Guardini hat die von den Reformatoren erst recht spät aufgegebene Lehre vom Fegefeuer in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts für den modernen Geist folgendermaßen zusammenfassen wollen:
„Wie ist es aber mit dem Menschen, der zwar guten Willens war, dessen Wille aber nicht − oder noch nicht genug − das Sein ergriffen hat? Dessen gute Gesinnung nur um einiges unter die Oberfläche hinabgedrungen ist, während darunter die Auflehnung saß, und die Tiefen von Bösem und Unreinem voll waren? Dessen Leben überall die Lücken des Unvollbrachten um die Zerstörung des falsch Getanen in sich trug? Wenn ein solcher Mensch ins Licht Gottes tritt, sieht er sich mit dessen Augen. Er liebt Gottes Heiligkeit und haßt sich selbst, weil er ihr widerspricht. Er durchlebt sich als den, der er vor Gott ist, und das muß ein unausdenkbarer Schmerz sein. Er steht auf Seiten der Wahrheit gegen sich selber. Er ist bereit, seinem eigenen Leben, all dem Versäumten, Halben, Wirren darin standzuhalten. In einem geheimnisvollen Leiden stellt das Herz sich der Reue zur Verfügung und überliefert sich so der heiligen Macht des Schöpfergeistes. Daraus wird das Versäumte neu geschenkt. Das Falsche wird in Ordnung gerückt. Das Böse umgelebt und ins Gute herübergebracht. Nicht äußerlich verbessernd, sondern so, daß alles durch das in der Reue wirkende Geheimnis der umschaffenden Gnade hindurchgeht und neu ersteht.“ (R.Guardini:Die Letzten Dinge.1952,36ff)
Die Reformatoren hatten zwar Recht damit, dass die Lehre vom Fegefeuer sich aus den zentralen Schriften der Bibel nicht überzeugend begründen lässt. Aber sie haben dann mit der Aufgabe dieser intellektuell eleganten Überlegung zu Teilbereichen soteriologischer Fragen den gesamten Korpus kirchlicher Denkarbeit nicht unerheblich geschwächt, da ihm mit dem Fegefeuer ein logisches Kettenglied des Erlösungsgeschehens irgendwie nun leider fehlt.
Sei’s drum. Es waren ja auch harte Zeiten. Wir hören heute wieder Schuberts Allerseelenlitanei oder Gambenmusik aus den hohen Kirchen zu Florenz. Und wir besuchen die vom Laub herbstlich geflaggten Kirchhöfe und freuen (die Lehre der Alten Kirche im Rücken) uns darüber, der Einbildung nachhängen zu dürfen und zu können, wie jemand auch für uns einmal - möge der Tag recht fern sein - ein paar gute Worte bei Gott einlegen könnte. Und darauf sollten wir jetzt schon vorsichtig aber beharrlich hinarbeiten.
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