Zwei Ochsen
unter dem Joch

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
„Was ist Wahrheit?“ Eine der bekanntesten Fragen der Weltliteratur. Sie kam bisher nicht nur in Büchern von Philosophen vor, sondern gilt auch als beliebtes Thema von Schülerseminaren und nächtlichen Diskussionen am Küchentisch. Aber auf jeden Fall kennen wir sie aus dem Mund eines römischen Statthalters. Der heißt Pilatus und steht einem gefesselten Mann gegenüber, der soeben gesagt hatte: „Ich bin ein König.“ Doch sein Königtum, so bemerkte dieser Mann ebenfalls, sei nicht von dieser Welt.
Pilatus fragt: „Was ist Wahrheit?“ Aber er fragt es nicht so, als wollte er wirklich eine Antwort hören. Er fragt es wie einer, der schon zu lange in der Gewalt leben muss, zu viele Menschen lügen gesehen hat, zu viele Kompromisse machen musste, zu viele Nächte durchgestanden hat, in denen man einander nicht das Wahre, sondern das Nützliche vorgemacht hat.
Vielleicht war diese Frage noch der Rest und ein Flüstern in ihm, vielleicht war es der letzte Versuch, heute einmal etwas Echtes zu hören. Vielleicht war es auch Zynismus. Wir wissen es nicht. Aber wir wissen: Er bleibt nicht bei Jesus stehen. Er geht hinaus. Und er beim Abgang sagt er: „Ich finde keine Schuld an ihm.“ Das ehr ihn - aber er spricht nicht die Wahrheit aus, die er fühlt.
Das ist unsere Welt. Eine Welt, in der man die Wahrheit spürt – aber nicht sagt. Oder sie sagt – und dann den Preis dafür bezahlen muss. Und genau darum ist dieser Sonntag Judika so besonders. Denn dieser Sonntag kümmert sich thematisch um den verzweifelten Ruf jedes Menschen: Schaffe mir Recht, Gott! Man ruft nicht: „Gib mir eine Theorie.“ Sondern: „Lass es endlich gerecht zugehen!“
Der Mann, der da vor Pilatus steht – Jesus –, sagt nicht viel. Aber er sagt alles, was gesagt werden muss: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.“ Nicht für die Institution. Nicht für das Gesetz. Nicht für die Mehrheit. Sondern für die Wahrheit. Und er sagt nicht: „Ich habe die Wahrheit.“ Sondern: „Ich bezeuge sie.“ Das ist der feine Unterschied: Wahrheit besitzt man nicht. Wahrheit trägt man.
Hier kommt der griechische Dichter Nonnos von Panopolis mit in’s Spiel. Nonnos, ein Spätantiker, ein Dichter in der Übergangszeit zum dumpfen Frühmittelalter. Nonnos hat das Johannesevangelium ins Griechische übersetzt – in Versen, in Hymnenform. Und er macht etwas Mutiges. Er verändert eine Stelle. Er legt Jesus eine Deutung in den Mund, die nicht wörtlich im Urtext steht, aber dem inneren Sinn näher kommt als viele Kommentare. Er lässt Jesus sagen: „Die Wahrheit ist wie ein Joch – mit dem man das Ganze auf zwei Seiten durchs Ziel trägt.“
Was für ein wahres Bild! Wahrheit ist kein Triumphzug. Sie ist ein Joch. Etwas, das Gewicht hat. Etwas, das man nicht allein trägt, sondern manchmal sogar gemeinsam – einer links, einer rechts. Und nur wenn beide es tragen, kommt man ins Ziel.
Vielleicht hat Jesus das wirklich gemeint, als er sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Nicht, weil es jenseits der Welt liegt. Sondern weil es nicht nach den Regeln dieser Welt funktioniert. Es ist kein Reich der Gewalt, kein Reich der Manipulation, keins der Qualitätsmedien, keine Zivilgesellschaft, die schnell mit der Cancelsense unliebsame Denker ausmerzt. Kein Reich der Sieger. Es ist ein Reich, in dem die Wahrheit getragen wird. Auch wenn sie weh tut. Auch wenn sie einsam macht. Auch wenn sie Kreuz bedeutet.
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine chassidische Geschichte erzählen. Sie geht so: Ein Schüler kommt zum Zaddik, dem gerechten Lehrer, und fragt: „Rabbi, warum schweigt der Himmel, wenn wir leiden? Warum schreit niemand für die Wahrheit?“ Der Rabbi antwortet nicht. Stattdessen führt er ihn in den Stall, zeigt auf zwei Ochsen, die gemeinsam ein Joch tragen, und sagt: „Schau genau hin.“ Der eine Ochse zieht tapfer. Der andere tut nur so. Und doch kommen sie voran.
Der Schüler staunt nicht schlecht - und da sagt der Rabbi: „So ist es mit der Wahrheit in dieser Welt. Sie wird auch dann und meistens nur getragen, wenn einer bereit ist, sie zu ziehen, auch wenn der andere nur den Schein wahrt. Und Gott? Der sitzt nicht auf dem Wagen. Er geht neben dem Joch. Und es kann sein, dass er weint, aber an den einen Ochsen, der da zieht, ganz fest glaubt.“
Diese Welt braucht nicht noch mehr perfekte Antworten. Sie braucht Menschen, die das Joch der Wahrheit mittragen. Und manchmal sind das auch die, die ihre Meinung nicht sagen konnten – aus Angst. Oder weil sie wussten, dass man ihnen nicht zuhört. Auch sie tragen das Joch – indem sie einfach nicht mehr lügen. Indem sie nicht mitmachen bei dem, was sie innerlich zerreißt.
Und dann sind da die anderen: Die, die es gesagt haben. Die aufgestanden sind. Die deshalb entlassen wurden, verlassen, angeklagt, verlacht. Auch sie tragen das Joch – vielleicht auf der linken Seite, vielleicht auf der rechten. Aber sie sind unterwegs.
Jesus sagt nicht: „Ich siege.“ Er sagt: „Ich bezeuge.“ Und er weiß, dass diese Wahrheit ihn ans Kreuz bringt. Aber: Sein Kreuz ist nicht das Ende. Es ist die Mitte, wie wir sehen. Die Wahrheit stirbt nicht, noch nicht einmal zuletzt, wie man es von der Hoffnung sagt. Wahrheit geht tiefer. Und kommt immer zurück. Nicht wie ein Bumerang, nicht mit Gewalt. Sondern mit Licht.
So sei diese Predigt für uns ein Trost: Für die Stillen, die nicht sprechen konnten. Für die Mutigen, die gesprochen haben. Für die Traurigen, die sich allein fühlen nachdem sie entweder gewchwiegen oder gesprochen haben. Wir sind darin nicht allein, dass wir uns vor der Wahrheit oft scheuen. Denn ihr Joch ist schwer – aber es ist heilig. Und bleibt es auch. Und Christus trägt mit - er geht nebenbei her und betet für den Ochsen, der zieht - und für den, der noch so tut, als ob er zieht. Amen.


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