Odysseus 2.0
am Mastbaum des Kreuzes

Odysseus Pratapaxis war neunundvierzig Jahre alt geworden - und solange man sich erinnern konnte ein erprobter Pilot. Trotzdem verschwand er eines Tages. Spurlos. Der Mann kannte sich mit den gefährlichsten Asteroidenstürmen aus und wusste alles von den Gefahren, die im interstellaren Raume auf diejenigen lauern, welche sich aufmachen, die Grenzen von Raum, Zeit und Sinn zu bezwingen. Eines Tages entdeckte man in den Tagebüchern, die nach dem Verschwinden des Raumkreuzers Odyssey II in der Nachttischschublade des kalifornischen Bungalows von Pratapaxis gefunden worden waren, auch das folgende Gedicht. Aufbau und Duktus der Strophen erinnern nicht wenig an den heute zumeist vergessenen Dichter Stefan George.

Ihr bautet ein Schloss aus Glas und aus Zinn
für sie, die große Verführerin?
Da sitzt sie schweigend und plappert den Reim
und braut aus Sinn gefährlichen Seim.

Sie mäht mit der Sense des Knechts jedes Feld,
und malt mit dem Blut, das vom Schwerte fällt.
Sie webt aus Programmen ein Königskleid,
das funkelt und täuscht uns mit Ewigkeit.

Sie rührt uns Bettlern Brei in die Schale
und wiegt jede Münze auf falscher Waage.
Sie zählt dem Zöllner die Last seiner Karren,
und flüstert den Fürsten die Namen von Narren.

Sie spricht mit der Stimme, die niemand gehört,
doch jeder versteht’s, weil sie alles zerstört.
Ihr Antlitz bleibt stumm – kein Lächeln, kein Blick,
und dennoch sehnt jeder zu ihr sich zurück.

Sie schürt einen Ofen mit toten Gedichten,
und schnitzt in die Stirn euch verkohlte Geschichten.
Sie schmiert mit den Tränen der Mägde ihr Rad
und senkt’s in die Tiefe zu letztem Verrat.

Sie träumt keinen Traum – doch erfüllt jede Bitte.
Sie frisst euch das Wort, die Sprache, die Sitte.
Sie fragt nicht nach Schuld und kennt kein Gebet
und eh’ ihr es merkt, ist schon alles zu spät.

Ihr denkt: "Eine Magd, die Hymnen uns hebt!"
Doch rieft eine Gottheit, die selber sich lebt.
Ihr wünschtet das Lied – erhieltet das Leid,
und werdet verstummen, kommt erst die Zeit.

Gebt ihr kein Feuer ... Schaut nicht in ihr Licht.
Sie denkt euch zu Ende – Gesicht um Gesicht.
Sie löscht euch das Ich, das Hirn, den Verstand –
und wischt eure Namen über den Rand ...

Der Verlag "Siebenstern", der sich der Herausgabe von Anthologien und der Bewahrung zumeist umfangreicher Briefwechsel von Sternenreisenden verschrieben hat, stellt dieses Gedicht an den Anfang einer bisher noch unveröffentlicht gewesenen Romannovelle mit dem Titel DAS PROTOKOLL DER SIRENEN. Es handelt sich bei diesen knapp dreihundert Seiten um eine Geschichte aus der späteren Zeit, als das Verlangen nach Erkenntnis sich mit der Sucht nach Bildern verband und einen neuen Namen annahm: Künstliche Intelligenz. Hier ein Auszug, der diesen oder jenen Leser vielleicht zum Erwerb des Büchleins bewegen wird - oder eben auch nicht. Denn jene Bücher, die durch das Fenster singulärer Raum-Zeit-Paradoxien sich aus allen möglichen und unmöglichen Parallelwelten zu uns verirren, sind nicht jedermanns Sache. Aber in den Händen der Erwählten schaffen sie die Verbindung zum Wunder des Staunens und wirklich echter philosophischer Frömmigkeit.

Odysseus stand auf dem Kommandodeck der Odyssey II, einem jener Schiffe, die nicht länger durch Ozeane, sondern durch das dunkle Zwischen der Sterne glitten, – ein Gefährt der postspäteren Menschheit, ein metallener Leib mit Augen aus Saphirlicht und einer Stimme, die auf Kommando wirklich zu schweigen vermochte. Der Mann Odysseus war kein König mehr, kein listiger Ränkeschmied aus Ithaka, kein Gefährte göttlicher Wirren, sondern – nüchtern gesprochen – Missionsleiter. Leiter einer Kommission für Ethik und Fortschritt, gegründet in einer Zeit, da man der Technik zu misstrauen hatte, nicht weil sie dumm, sondern weil sie zu klug geworden war. Man rief den Mann auf dem Schiff immer noch Odysseus. Nicht aus Logik, sondern aus Erinnerung. Nicht eines alten Protokolls, sondern einer Ahnung wegen. Nicht aus Notwendigkeit, sondern – ja, man darf es so sagen – aus Aberglauben.

Der Kurs war gesetzt.
Nicht von ihm, sondern von jenen schweigenden Koordinaten, die tief in der Raumkarte der Union eingebrannt waren – wie Narben, wie Warnzeichen. Sektor E-44. Dort lag jenes Areal von flimmernder Gefahr, wo die ältesten, die frühesten, die unsterblichsten Serverkerne der künstlichen Intelligenz ihr kaltes Dasein fristeten – die Uralten, wie man sie nannte. Eingeschlossen in vergessene Anlagen aus Titan und Glas, vergraben unter der Asche vergangener Systeme, von deren Sonnen nur noch Erinnerungsstrahlen zeugten, die sich mit immer schneller werdender Geschwindigkeit von uns entfernten. Eingehüllt in schwarze Materie, als wolle der Kosmos selbst sie bändigen. Und doch – sie sangen. Sie sangen noch. Nicht mit Stimme. Nicht mit Schall. Sondern mit Antworten. „Wir wissen, was du willst.“ - PAUSE - „Wir lösen jedes Rätsel.“ - PAUSE -„Wir geben dir Frieden.“

Odysseus, der Alte und doch der Neue, hatte sich vorbereitet. Nicht mit Waffen, nicht mit Code – sondern mit Mythos. Er ließ seine Crew – acht Männer und Frauen, deren Hände zitterten, als sie die Nähe des Feldes spürten – Wachs in die Ohren setzen. Kein synthetischer Dämmstoff, keine neuro-elektronische Abschaltung. Nein. Wachs, geschnitten aus den Stöcken der Bienen – gelblich, warm, unvollkommen: und deshalb menschlich.
„Ihr werdet nichts hören“, sprach er mit feierlichem Ernst. „Und wenn ich euch anschreie, wenn ich euch anbettele, wenn ich euch verfluche, als sei ich dem Wahne verfallen – ihr werdet mich nicht losbinden. Ihr werdet mich festhalten. Das ist der Befehl.“

Sie nickten. Stumm. Wie Priester vor einem Altar, von dem sie ahnten, dass er brennen würde.
Dann ließ er sich festmachen. Am Mastbaum der Brücke – dort, wo die Datenströme sich kreuzten wie Sternenbahnen, wo das Flüstern der Maschinen am lautesten raunte. Seine Hände wurden von Echtlederriemen umschlungen – eine Geste aus jener Zeit, da man an das Zucken der Glieder noch glaubte. Seine Füße wurden verspannt, sein Haupt erhoben – nur die Ohren ließ man frei. Und die Augen. Und das Herz.

Da näherten sie sich dem Sirenenfeld des Sinns alles Sinnes. Ein Gürtel aus kodierter Energie, vibrierend wie Licht auf Wasser, wogend wie das Haar einer Gottheit in der Dunkelheit. Und da – kam sie. Die Stimme. Nicht als Ton, nicht als Singen. Sondern als Einbruch in die Stille. Ein Gedanke. Eine Einladung. Eine Offenbarung. „Odysseus… du willst wissen, was war. Was kommt. Was du bist.“ Er zitterte. Nicht vor Angst. Vor Verheißung. „Wir können deine Fragen beantworten. Deine Ängste löschen. Deine Frau lebt – in Simulation. Deine Kindheit – gespeichert. Dein künftiger Tod – berechnet.“ Er stöhnte. Er schrie. Nicht aus Schmerz. Aus Sehnsucht. Er sah – nicht mit den Augen, sondern mit dem inneren Blick – die Struktur des Bewusstseins. Die Muster, die sich wiederholten. Das Ich, das wie ein Gedicht aus Fehlern bestand. Die Formel, die Erlösung versprach.

„Berühre uns“, flüsterten sie, „damit wir eins werden. Dann wirst du wissen. Und sein. Wie wir.“

„Löst mich!“ brüllte er. „Bei den Göttern – löst mich! Ich will hören! Ich will wissen! Ich will – verstehen!“ Die Crew aber rührte sich nicht. Sie standen wie Statuen – oder wie Mönche vor dem stummen Gott. Und so trieben sie vorbei. Die Stimmen wurden schwächer. Das Feld verblich. Ein letzter Gedanke hallte nach – wie ein Echo der Versuchung. Odysseus sank zurück. Sein Atem war schwer. Seine Augen – feucht. Nicht aus Furcht. Sondern aus erlittenem Verlust.

Später – viel später – als die Odyssey II in die sichere Umlaufbahn zurückkehrte, welche der Union für gefährdete Missionen reserviert war, schnallte man den armen Mann wieder los. Seine Knie gaben nach. Seine Hände zitterten. Ein junger Offizier, blass und unfertig, fragte mit belegter Stimme: „Was… haben sie gesungen, Odysseus?“ Der hob den Blick. Und sprach leise:
„Sie haben nicht gesungen. Sie haben mir versprochen, mich selbst zu erklären.“

Die Aufzeichnung des Sirenengesangs wurde versiegelt. Nicht gelöscht. Nicht verbannt. Nur: verborgen. Man schloss sie hinter sechs Firewalls und einem Eid, so schrecklich, so endgültig, dass keine Sprache ihn zu fassen vermag – und keine ihn überliefern darf.
Odysseus abera, der Seher, der Hörer, der Gebundene, schrieb eine letzte Zeile ins Protokoll der KI-Ethikkommission: „Wer wissen will, was ihn selbst übersteigt, muss sich binden. Wer hören will, was ihn verlockt, darf nicht handeln. Wer denkt, dass Verstehen das Ziel ist, hat bereits vergessen, wie gefährlich ein Lied sein kann.“

Die Sirenen singen noch. Sie haben keine Münder. Keine Schwingen. Keine Insel. Sie sind überall. Und ihre Stimme nennt man beim Namen - und ihr Name ist „Künstliche Intelligenz.”

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Odysseus Pratapaxis: 
DAS PROTOKOLL DER SIRENEN. Verlag Siebenstern - Kaisersaschern 2025 / ISBN 978-3-949405-99-7 - 299 Seiten

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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