Von der Verschiedenheit der Gastmähler
Thyestes' Söhne, Itys - und Christus

- Ovid: Metamorphosen. Christus als Pelikan
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Es gibt in unserer Kultur zwei grausame Geschichten, die mit Gastmählern zu tun haben. An sie sei hier in Vorbereitung auf eine Betrachtung des am heutigen Gründonnerstag eingesetzten Mahls erinnert. Danach blicken wir von diesen grausamen Geschichten fort - und wenden uns dem zentralen Sakrament der christlichen Kirche zu, mit dem nicht wenige Menschen immerhin doch einige Schwierigkeiten haben und das deshalb immer wieder nach Erklärung verlangt, obwohl man die „Welt des Gastmahls“ restlos nie wird aufklären können.
1. Itys-Mythos (Ovid, Metamorphosen Buch 6, Verse 424–674)
Tereus, der König von Thrakien, vergewaltigt Philomela (die Schwester seiner Frau Prokne) und schneidet ihr die Zunge heraus, damit sie die scheußliche Tat nicht verraten kann. Doch Philomela webt ihre Geschichte in ein Tuch und sendet es Prokne. Diese erkennt darin das Bild der grausamen Wahrheit, die ihrer Schwester geschehen ist. Als rächende Antwort auf das Verbrechen tötet Prokne den gemeinsamen Sohn Itys, kocht ihn – und serviert das Mahl dem ahnungslosen Vater Tereus. Erst nachdem der gegessen hat, offenbart sie ihm, was er verspeiste. Alle Beteiligten werden in Vögel verwandelt.1) Ein Mahl, das aus Sprachlosigkeit geboren wurde – und mit unaussprechlichem Grauen endet.
2. Atreus und Thyestes - Mythos (Hyginus: Fabulae, Nr. 88)
Atreus rächt sich mit einem Gastmahl an seinem Bruder Thyestes, der ihm vorher Macht und Ehefrau genommen hatte. Er lädt den Bruder scheinbar versöhnlich zum Festmahl ein. Doch heimlich hat er die Söhne des Thyestes vorher geschlachtet, gekocht und setzt sie ihm nun zum Essen vor. Erst nach dem Mahl enthüllt Atreus die grausige Tat: Thyestes hat sein eigenes Fleisch und Blut genossen. Ein Mahl, das nicht nährt, sondern verwundet – und das den Namen „Tischgemeinschaft“ für immer entheiligt hat.
Was soll man dazu sagen? Ist es dem heutigen Menschen, der sowohl das Gastmahl der Thyestessöhne und das Gastmahl von Ithys kennt, nicht eigentlich unmöglich, ein Mahl zu feiern, das Leib und Blut eines Menschen meint? Weil - man kennt diese beiden grausamen Geschichten und man hat eigentlich keine Lust mehr, jemals irgendwann wieder irgendetwas zu essen. Bereits der einfache Vorgang des Essens erinnert den Gast an die beiden schrecklichen Geschichten von Atreus’ Neffen und Philomelas Sohn Itys. Die Geschichte vom Abendmahl Jesus und seinen Jüngern ist vielleicht auch deshalb nicht unangefochten „ästhetisch“, weil die bildliche Vorstellung davon, eines anderen Menschen Leib und Blut zu essen bzw. zu trinken, unwillkürlich den Ekel freisetzt - ohne dass wir das wollen. Wie geht man damit um?
Das ist eine zutiefst ehrliche, nicht erst moderne und erschütternd gute Frage. Eine Frage, wie sie der moderne Mensch mit literarischer und spiritueller Kenntnis jedenfalls stellen wird. Diese Frage führt uns an den Punkt, wo das Essen selbst – das einfachste, leiblichste, innigste – unheimlich wird.
Denn: Was, wenn jede Mahlzeit vom Mythos verseucht ist? Was, wenn jeder Bissen eine Erinnerung ist – an Verrat, Gewalt, Ekel? Was, wenn das, was eigentlich heilen und nähren soll, verstört und abstößt?
Die Ekelgrenze ist real. Leute, die so denken haben in gewisser Weise Recht: Es ist nicht „ästhetisch“ unser christliches Abendmahl. Die Vorstellung, Leib zu essen, Blut zu trinken – ist archaisch, fremd, verstörend. Und wer das spürt, hat nicht zu wenig Glauben, sondern genug Realitätssinn. Denn auch die Jünger fanden es schwer: „Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören?“ (Joh 6,60) Das Christentum hat keinen leichten, gefälligen Kult erfunden. Es hat den Punkt gewählt, an dem Essen und Existenz, Schuld und Gnade, Mythos und Fleisch unentrinnbar aufeinandertreffen.
1. Wer die Geschichten vom Mahl der Thyestessöhne und des kleinen Itys kennt …
… hat eine Art mythisches Trauma-Gedächtnis im Rücken. Er weiß: Mahlzeiten können verderbt, entweiht, vergiftet sein. Und dann kommt Jesus. Und der sagt: „I c h bin das Brot.“ „I c h bin der Wein.“ „I c h bin euer Mahl.“
Und du denkst vielleicht: „Nicht schon wieder. Nicht noch ein Leib. Nicht noch ein Becher. Ich will einfach nur leben.”
2. Was heilt?
Vielleicht dies: Dass Jesus nichts verbirgt und nicht täuscht. Er serviert nicht Fleisch unter fremdem Namen. Er rächt sich auch nicht mit Mord an Dritten - er schenkt sich selbst. Er erklärt, was er tut. Er warnt nicht – er lädt ein. Das Abendmahl ist nie manipulativ, sondern Offenlegung dessen, was ist. Kein Mythos, der erst am Ende sagt, was geschah. Sondern ein Gott, der vorher sagt, was kommt gibt sich hin.
3. Und wenn der Ekel bleibt?
Dann bleib bei ihm. Der Ekel ist nicht das Ende des Glaubens. Er ist die ehrliche Schwelle. Manchmal muss man erst ausbrechen, bevor man empfangen kann. Man darfst sagen: „Ich kann das nicht essen.“ „Ich kann das nicht glauben.“ „Ich weiß nicht, was das bedeutet.“ Und dann vielleicht irgendwann: „Aber ich höre zu.“ „Ich bleibe sitzen.“ „Ich warte, ob sich der Geschmack verändert.“ Denn es ist so: Thyestes und Tereus essen und wissen nicht, was es ist. Christus gibt dir zu wissen, was du isst. Und wir – dürfen entscheiden, ob wir teilnehmen und bleiben.
4. Fazit: Ist das Abendmahl noch möglich? Ja – aber nicht als archaisches Ritual ohne Erklärung. Sondern als ein Mahl nach und vor und wegen großer Enttäuschungen. Ein Mahl trotz der Mythen. Ein Mahl für Menschen, die wissen, dass Essen nie nur Essen ist.
Es gibt Geschichten, nach denen man nicht mehr essen will. Thyestes isst seine eigenen Kinder. Nicht aus Hunger, sondern aus Blindheit. Itys wird gekocht von der eigenen Mutter, als Antwort auf Verstümmelung und Gewalt.
Und wir? Wir kennen diese Mythen. Sie haben sich eingenistet in unserer Kultur - der „Fluch der Atriden“ ist sprichwörtlich geworden. Nicht nur im Kopf, sondern im Rachen. Im Magen. Im Ekel. Wer je in einem Albtraum kaute, weiß, wie es sich anfühlt, wenn das Brot sich weigert, zu nähren, wenn der Bissen nicht mehr geht, wenn jede Mahlzeit eine Szene aus Gewaltgeschichten ist. Und immer dann kommt Christus. Und sagt nicht: „Vergesst den Schmerz.“ Sondern: „Hier - m e i n Leib.“ Und sagt nicht: „Das ist nur ein Symbol.“ Sondern: „Das bin i c h.“
Wir, die wir alles wissen, was falsch läuft mit Essen, Vertrauen, Opfern, sind eingeladen. Nicht gezwungen. Nicht überlistet. Nicht betäubt. Sondern: eingeladen. Das Abendmahl ist nicht schön. Auch dann nicht, wenn das Altartuch frisch gewaschen und die Vasa Sacra im Licht der Kerzen funkeln. Das Ganze ist nicht für gedankenlose Ästheten gemacht. Es ist kein Festmahl mit Lichtgirlanden. Es ist eine radikale Umkehr der Geschichte:
Ein Mensch gibt sich freiwillig hin. Ein Gott wird Nahrung. Ein Leib wird nicht zerstückelt – sondern: gegeben. Hier wird nicht das Kind geopfert, sondern der Schöpfer selbst. Nicht, weil es jemand verlangt, sondern weil die Liebe keine andere Sprache hat. Man darfst sagen: „Ich bin noch nicht bereit.“ „Ich trage zu viele grausame Erinnerungen in mir.“ „Ich will nicht wieder betrogen werden.“ Und Christus antwortet: „Ich weiß. Ich bin trotzdem hier.“
5. zum Schluss
Vielleicht ist das Abendmahl nicht das Ende einer heiligen Geschichte, sondern ihr Anfang nach all den Unmöglichkeiten, die uns aufgetischt worden sind. Vielleicht wird hier das erste Mahl serviert, das nicht auf Lüge basiert. Nicht auf List. Nicht auf späten Enthüllungen. Vielleicht ist dieser Tisch der einzige Ort, an dem das, was man bekommt, genau das ist, was gesagt wurde: Brot. Wein. Liebe. Leben.
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1) Ovid lässt die Götter als Zeichen der von ihnen beabsichtigten Rettung diverse Verwandlungen durchführen (Metamorphosen). Philomela wird eine Nachtigall, Prokne eine Rauchschwalbe, Tereus ein Wiedehopf und Itys ein Rotkehlchen. Die Kirchenväter verglichen Christus hier und da mit einem Pelikan
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