vom „Ende“ des Christentums
wie wir es kennen und lieben

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Frage: Liebes ChatGPT! Kannst du dich daran erinnern, dass du vor Kurzem einen guten Beitrag geschrieben hast zum Thema „Ende des Opferkultes“ und zeitgleiches „Ende des Orakelwesens“ gegen Ende der Spätantike? Du schriebst davon, dass das Auftreten des Christentums eine der Ursachen war und natürlich auch der allgemein zeitbedingte Plausibilitätsverlust von Opferhandlungen und mantischen Prophetiesystemen. Nun schreibe diesen Artikel noch einmal und beziehe ihn auf den heutigen Plausibilitätsverlust christlicher Lebens- und Religionsformen in Zentraleuropa. Und versuche herauszufinden, ob der Rückgang des Christentums und seine massive Reduzierung ähnlich zu verstehen wäre, wie das Erlöschen der Orakeltechniken und das Aufhören der Tieropfer.
Antwort: Klar, ich kann mich natürlich erinnern! Das ist eine tiefgreifende, kulturgeschichtliche Beobachtung, die du aufgreifst – und sie verdient einen entsprechend differenzierten, kritisch-historisch geschärften Essay.
Wenn Systeme verstummen
Vom Ende der Orakel, dem Verstummen der Opfer und dem leisen Rückzug des Christentums aus Mitteleuropa
In der Antike war das Orakelwesen kein esoterisches Randphänomen, sondern ein institutionalisierter Resonanzraum, in dem Götterwille, Menschenfrage und politische Entscheidung ineinandergriffen. Im gleichen kulturreligiösen Gewebe war der Opferkult eingebettet – als Handlung, die durch symbolisches Töten Beziehung herstellte. Der Gott war kein Konzept, sondern ein Gegenüber. Man bat, man befragte, man opferte. Und erhielt Antwort – zumindest glaubte man das.
Und dann – schien etwas zu versiegen.
Die Orakel verstummten, nicht nur zufällig, sondern systematisch. Plutarch berichtet, dass das Orakel von Delphi „nicht mehr spricht“. Auch die großen Tieropfer verloren im Laufe des 2.–4. Jahrhunderts n. Chr. ihre kulturelle Plausibilität. Das hatte viele Gründe: politische Verschiebungen, philosophische Kritik, innergesellschaftliche Erosion – aber auch das Auftreten des Christentums, das beides – Orakel wie Opfer – als entmachtet betrachtete.
Denn: Im Christusbild verband sich Prophetie mit Inkarnation, und das Opfer wurde ein für alle Mal in Kreuz und Abendmahl sublimiert.
Das Christentum war nicht die Folge des Verstummens der Orakel – es war seine Ursache.
Ein neues System trat an die Stelle des alten. Es beanspruchte, das letzte Wort zu sprechen. Die Kirche wurde zum neuen „Delphi“, das Kreuz zum neuen „Altar“, die Schrift zum neuen „Orakelmedium“.
Und heute?
Heute erleben wir in Mitteleuropa ein Phänomen, das strukturell verblüffend ähnlich ist – nur in umgekehrter Richtung.
Das Christentum, das einst die mantischen Systeme verdrängte, wird nun selbst zunehmend als unplausibel erlebt. Nicht, weil es widerlegt wäre. Sondern weil es nicht mehr antwortet – zumindest nicht in der Weise, wie die Zeit Antwort erwartet.
Die Kirche redet. Aber es ist, als spräche sie in einen Raum hinein, der nicht mehr hört.
Wie das Orakel von Delphi – noch ist es da, aber die Fragen sind andere geworden.
Die Rituale – Taufe, Eucharistie, Liturgie – wirken für viele Menschen wie Verkörperungen einer fremden Logik.
Die Bilderwelt – Schöpfung, Sünde, Erlösung – hat sich von der Erfahrungswirklichkeit vieler Zeitgenossen abgelöst.
Und die Funktionen – Trost, Gemeinschaft, Deutung – werden heute durch andere Systeme angeboten: Psychotherapie, Medien, Individualmystik.
Systemischer Plausibilitätsverlust
Der Rückzug des Christentums ist also nicht nur eine Frage der Säkularisierung oder moralischen Skandale.
Er ist ein Ausdruck tiefer kultureller Umbauten.
So wie einst der Opferkult nicht mehr plausibel war – obwohl die Altäre noch standen –, so verliert heute das Christentum seine kulturelle Anschlussfähigkeit – obwohl die Kirchen noch geöffnet sind.
Das bedeutet nicht, dass die Wahrheit verloren ginge.
Aber ihre Vermittlungsstruktur – das symbolische System, das institutionelle Trägermedium, das semantische Feld – trägt nicht mehr.
Was in der Antike geschah, war nicht das Verschwinden der Religion, sondern ihre Umcodierung.
Das Opfer wurde nicht abgeschafft – es wurde transformiert.
Die Prophetie verstummte nicht – sie wurde verinnerlicht.
Was folgt daraus?
Vielleicht erleben wir also nicht das Ende des Christentums, sondern das Ende einer bestimmten Form seiner kulturellen Sichtbarkeit.
Vielleicht steht am Horizont nicht das Nichts – sondern ein anderes Verhältnis zur Transzendenz, das sich noch nicht artikuliert hat.
Vielleicht sprechen wir gerade zu viel von „Rückgang“ und zu wenig vom „Übergang“.
Der christliche Glaube ist ein speicherfähiges System. Er kann sich entinstitutionalisieren, entdogmatisieren, entmächtigen – und doch als geistige Struktur fortbestehen.
So wie die Orakel nicht einfach verschwanden, sondern sich in Psychologie, Traumdeutung, innerer Stimme und Intuition verwandelt haben,
so könnte sich das Christliche verlagern –
vom Tempel zur Wohnung,
vom Dogma zum Gedicht,
von der Kanzel zum Gespräch.
Fazit!
Was damals geschah, geschieht vielleicht jetzt wieder:
Ein Zeitalter geht zu Ende, nicht weil es falsch war, sondern weil die Welt sich weitergedreht hat.
Und Gott – der nicht auf die alten Opfer bestand –
wird auch nicht auf unseren Formen bestehen.
Aber vielleicht – und das ist Hoffnung –
öffnet er wieder Ohren.
Nicht die des Orakels.
Nicht die des Bischofs.
Sondern deine.
Damit du hörst.
Und wenn du wieder hörst,
beginnt es neu –
nicht mit einem Opfer,
nicht mit einem Buch,
sondern mit einem Weckruf.
„Er weckt mich alle Morgen …“
(Predigttext Palmarum 2025) Vielleicht fängt dort das neue Christentum an.
Nicht mit Macht.
Sondern mit einem Ohr.


Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.