UND SIE NÖTIGTE UNS
LYDIA PURPUREA
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- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
„Und sie nötigte uns!” Mit dieser scheinbar recht nebensächlichen Bemerkung endet die Predigtperikope für den morgigen Sonntag (Acta 16,9-15). Eine Purpurhändlerin, welche auf den schönen Namen Lydia hört, drängt Paulus und den Gefährten Silas mit diesen Worten, bei ihr einige Zeit im Hause zu bleiben. Lydia handelt mit dem färbenden Purpur. Mit einem sehr wertvollen Pulver. Der Purpurfarbstoff war früher so etwas Ähnliches, wie heute Seltene Erden darstellen - Scandium, Yttrium, Lanthan, Gadolinium, Cer, Terbium, Praseodym, Dysprosium, Neodym, Holmium, Promethium, Erbium, Samarium, Thulium, Ytterbium, Lutetium und Europium.
Farbstoff aus der Drüse der Purpurschnecke (Cochlea purpurea) wurde mit Gold aufgewogen. Denn das Zeug färbt und färbt und färbt und färbt - alles! Goethe hat einiges sehr Schönes über die Farbe Purpur bemerkt. In seiner Farbenlehre zum Beispiel will er herausgefunden haben, wie die Farbe Purpur dadurch entsteht, dass das kurzwelligste Licht (Violett) mit dem langwelligsten (Rot) sich mischt. Also - die beiden Enden des für das menschliche Auge sichtbaren Spektrums ergeben jene Farbe, welche zwischen Braun oder Schwarz bis pink changiert. Lydia muss eine durchaus interessante Frau gewesen sein. Nun nötigt das Weib zwei wildfremde Männer, in ihr Haus einzukehren. Das Bildnis der Purpurkrämerin schmückt seitdem manches Gelehrtenzimmer - als Ikone "einer hohen Frau mit Interesse." Lydia ist das Ur-Bild für wahrhaftige Verehrerinnen geistiger Welten.
In Verfolg deren Schicksals sagen manche, es käme überhaupt am meisten darauf an, dass wir uns immer mehr von "geistigen Welten" anziehen ließen - und von "materiellen Dingen" abzustoßen lernten. Ich gehöre auch mit zu dieser Schar ... Und Sie? Abstoßen ist nicht im Sinne von abstoßend oder Abscheu gemeint, sondern jener Vorgang ist intendiert, welcher zeigt, wie man sich - in einem Kahn stehend - vom Ufer abstößt, um an das andere zu gelangen. Die Kirche hat in ihrer Geschichte es weit gebracht mit solchen Abstoßungsübungen. Manchen hat sie damit den Weg zum Allerhöchsten hin eröffnet, anderen ist sie gerade deshalb zum Verhängnis geworden - Nietzsche z.B. hat das ganze Ding umgedreht und gerufen: „Brüder, bleibt der Erde treu!” Lasst Euch nicht ins geistige Wolkenkuckucksheim verführen. Tja, ... Befreiungsbewegungen verschiedenster Revolutionen rissen das Steuer, das Lydia auf schöne Ewigkeit gestellt hatte, um 180 Grad wieder herum - man wollte weit weg vom Heilsweg der Kirche und trachtete eher danach, erneut wieder Tier werden zu dürfen, aus dessen dumpfer Instinktwelt man sich im Gefolge der griechischen Philosophie und ihrer Erbin (der christlichen Kirche) mühsam einen Weg in das Geistige gebahnt zu haben lange geglaubt hatte.
Lydia ist die erste Person, von der berichtet wird, dass sie auf europäischem Boden die christliche Taufe erbat und von Paulus empfangen hat. Schon deswegen ist die Frau interessant. Ihr Interesse an der Predigt des reisenden kleinen Missionars wird seitdem getreu berichtet. Was ist Interesse? Interesse tut das Herz auf. Schrecklich sind Menschen, die sich für nichts interessieren lassen, die keine Phantasie haben und dafür absolut einfallslos den Alltag zelebrieren. Fürch-ter-lich!!! Interesse heißt übersetzt "Zwischensein." Interesse ist das Kennzeichen der modernen Alteuropäer. Die wollen wissen, erfahren und ausprobieren, ob es für sie was bringt. Sie wollen Purpur aufgetragen haben. Und Paulus, der interessante Dinge vorzutragen hatte, ähnlich wie damals schon Echnaton und dessen Epigone Thutmoses im Lande der Pyramiden, soll bleiben. So sagt es Lydia: „Und bleibt!“ sagt sie. Wie zur Entschuldigung vermeldet die Apostelgeschichte: „Wir kamen von dort lange nicht weg. Es war nichts zu machen. Sie drängten uns zu bleiben!”
Die Begegnung mit der faszinierenden Person der Purpurkrämerin Lydia wird durch einen Traum ausgelöst. Paulus träumt nächtens von einer Gestalt, die aussah "wie ein Mann aus Macedonien." Nun - es war eine Frau. Die Gestalt soll: „Komm - und hilf uns!” gerufen haben.
Wer könnte uns heutigen helfen - und wobei? Russen, Amerikaner, oder gar nur noch die Außerirdischen? Wenn Außerirdische kämen, dann würde ich sie nötigen, bei uns zu bleiben. Ich würde in sie dringen und sie bitten, ein paar Geheimnisse aus der Welt jenseits unserer Galaxis preis zu geben. Genau das macht Lydia. Sie hält die Reisenden auf, obwohl der Volxmund es anders wissen will. Die kleine Schrift acta apostolorum gleich nach dem Lukasevangelium ist der Bericht davon, wie ein Geschehen, dass zuerst nur aus den drei Worten „Christ ist erstanden!” bestand, langsam aber sicher die Runde zu machen begann, unaufhaltsam Raum griff und sich die Information davon fortsetzen und Wirkung entfalten konnte. Die Apostelgeschichte handelt davon, wie etwas, von dem man anfänglich nie gedacht hatte, dass es wichtig werden könnte, weltgewichtig wurde und die Gesellschaft langsam aber sicher in seinem Sinne umformte.
Es gab einmal Männer, die feine Clubs gründeten. Phileas Fogg schloss dort eine Wette ab, in 80 Tagen um die Welt reisen zu können. Er gewann die Wette! Im Film „Jenseits von Afrika” ist so ein Club zu sehen, wo alte Herren und leichtfüßige Jungs gemeinsam sitzen, den gepflegten Drink in Reichweite. Man genießt seine Zigarre und liest in der Times vom Wohl und Wehe der entfernten Welt. Man schmiedet dort auch Pläne für irgend etwas Gutes, über das hinaus Besseres sich nicht mehr denken lässt. Träume aus Purpur auf Zelluloid - aber was wären wir ohne sie? An solchen Phantasieorten begegnen wir dem Dalai Lama. Unbedingt natürlich Peter Sloterdijk und dem unvergleichlichen Thomas Quasthoff. Auch auf - heute unvermeidlich - Elon Musk. Wo Du auf diese Leute triffst sage schnell „Bleibt uns zu helfen!” Und nötige sie ...
Und ich würde sie nötigen …
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