Friedliche Revolution
9. Oktober 89 Gethsemanekirche

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Am 3. Oktober 1989 wurde die letzte geöffnete Grenze der DDR nach der Tschechoslowakei geschlossen. Wir waren nun von allen Seiten von Mauern umgeben. Ich war damals 25 Jahre alt und lebte in Ost-Berlin. Dort marschierte die Armee auf und bereitete sich darauf vor, jeden Protest gewaltvoll niederzuschlagen. Der 40. Geburtstag der DDR am 7. Oktober 1989 sollte ungestört über die Bühne gehen. Was tun?
Ich fühlte Angst, aber auch Hoffnung – jetzt war der Zeitpunkt, an dem eine Entscheidung bevorstand. In der evangelischen Gethsemanekirche im Prenzlauerberg gab es tägliche Friedensgebete am Abend und eine Mahnwache für die Inhaftierten. Am 4. Oktober begann ich zusätzlich eine Fastenaktion als ein konkretes Angebot zum gewaltfreien Widerstand. Von da an saß ich Tag und Nacht in der nun ständig offenen Kirche, fastend und betend. Ich durfte die Kirche nicht mehr verlassen, dann wäre ich sofort verhaftet worden. Zwei Tage fastete ich allein, dann haben sich viele Menschen der Fastenaktion angeschlossen. Unterstützt wurde ich von Anfang an von der Taizegebetsgruppe. Wir sangen Taizelieder und beteten Psalmen. Tag und Nacht kamen Menschen in die Kirche, suchte das Gespräch, Schutz oder Stille. Jeden Abend um 18:00 kamen Hunderte zu dem Friedensgebet. Es wurden täglich mehr. Viele waren zum ersten Mal in ihrem Leben in einer Kirche. Immer wenn Unruhe aufkam, trat ich an das Mikrophon und begann, mit den Leuten den Kanon „Dona nobis pacem“ zu singen. Am 7. und 8. Oktober wurden dann hunderte Menschen nach dem Gebet festgenommen und von Armeelastwagen weggefahren. Niemand wusste zunächst, wo sie sind und was mit ihnen passiert. Das war erschütternd!
Am Montag, dem 9. Oktober waren wir daher besonders angespannt. Schon lange vor dem Friedensgebet war die Kirche überfüllt. Sobald das Gebet um 18:00 begann, wurde die Kirche von außen von der Polizei und der Armee abgeriegelt, Scharfschützen auf den Hausdächern. Wir rechneten mit dem Schlimmsten. Wir sangen und beteten und hofften. Und dann hörten wir aus Leipzig: Tausende Menschen demonstrieren nach dem Montagsgebet in der Innenstadt und die Polizei und Armee greift nicht ein! Wir öffneten die Türen der Gethsemanekirche und sahen: Die Wasserwerfer und Armeelastwagen fuhren weg, die Polizei zog sich zurück. Das war unbegreiflich! Singend und mit Kerzen in der Hand gingen wir vor die Kirche auf die Straße und Unzählige Menschen aus den Häusern rings herum schlossen sich uns an. Von da an gab es kein Halten mehr. Jeden Abend kamen mehr Menschen in die Kirche und gingen im Anschluss auf die Straße.
Einen Monat später am 9. November fiel die Mauer. Aber der entscheidende Tag war der 9. Oktober: Es war wie ein Wunder, dass es nicht zu einem Blutvergießen gekommen ist. Sindermann, ein führender DDR-Politiker sagte im Nachhinein: Wir haben mit allem gerechnet, aber nicht mit Kerzen und Gebeten. Natürlich spielten viele Faktoren eine Rolle, doch die Gewaltfreiheit der Protestierenden war entscheidend. Ich bin nach dieser Erfahrung überzeugt: Die Gebete haben maßgeblich zur Gewaltfreiheit der Proteste beigetragen. Gebete haben eine verändernde Kraft, sie können friedlich gesellschaftliche Veränderungen vorantreiben und Mauern sprengen! Können wir daraus auch für die Gegenwart etwas lernen?

Autor:

Pfr. Dr. Angela Kunze-Beiküfner

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