Wort zur Woche

Als Obama "Amazing grace" anstimmte

Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.
Johannes 1, Vers 16

Barack Obama steht am Lesepult. Rings um ihn sitzt die Gemeinde, die zur Trauerfeier von Reverend C. Pinckney gekommen ist.

Von Henrike Kant

Der Geistliche und acht weitere Menschen wurden eine Woche zuvor in diesem Juni 2015 während einer Bibelstunde von einem rassistischen Attentäter getötet. Vieles hat der damalige Präsident schon gesagt zu den unzureichenden Waffengesetzen, zur Verharmlosung der Geschichte der Sklaverei und zur anhaltenden Diskriminierung schwarzer Menschen in den USA. Er sieht, dass das alles nicht genügt. Was sollen die mahnenden Worte noch bewirken? Wie lässt sich über eine so menschenverachtende Tat sprechen, ohne falschen Trost zu spenden?

Einige der Angehörigen der Opfer haben sich öffentlich an den Täter gewandt und ihm klar entgegengehalten: Diese Tat soll uns nicht bestimmen. Der Hass soll nicht siegen. Wir brauchen die Vergebung. Wir vergeben dir!
Diese Geste braucht unglaublich viel Kraft. Und sie gibt Kraft weiter an die, die sich von ihr berühren lassen. Barack Obama erinnert an den Ursprung dieser Kraft. Er glaubt daran: Wir müssen sie nicht aus uns selbst hervorbringen. Wir müssen uns nicht auf unser eigenes Können, unsere eigene Resilienz verlassen.

All unsere Ohnmacht, all unsere Dunkelheit können wir auf Gott werfen. Aus seiner Fülle empfangen wir Gnade ohne Ende. Gnade, das heißt: Liebe, die uns wärmt. Begleitung durch die tiefsten Täler. Geborgenheit, wie ein Kind sie bei seiner Mutter erfährt. Obama spürt die tiefe Trauer und Verletzlichkeit der Menschen. Und er spürt die Kraft, aus der sie schöpfen.

Gesprochene Worte können dem nicht gerecht werden. Er beginnt zu singen: Amazing grace! Unglaubliche Gnade! Nur wenige Töne klingt seine Stimme allein, dann erhebt sich die Gemeinde um ihn. Sie stimmen mit ein in diesen Gesang von Ohnmacht und Verzweiflung, in dieses Lied voll Vertrauen und Ermutigung: Amazing grace! Gottes Gnade ist größer.

Die Autorin ist Pfarrerin in Biederitz.