Folge 35 – 1990 und 1991
"Wir brauchen Zeit" – und haben keine

In seinem Neujahrswort 1990 dankt Landesbischof Werner Leich Gott für die langersehnte Veränderung und schreibt weiter: "Ein langer Weg in die Freiheit steht noch bevor. Nur in Versöhnung und Gewaltlosigkeit kann er gelingen."

Von Dietlind Steinhöfel

Dass dieser Weg nicht einfach ist, zeigen die Jahre 1990 und 1991. Die Autorin Margot Friedrich schreibt von den neuen Tönen auf den Demonstrationen, den Deutschlandfahnen und dem Ruf nach Wiedervereinigung. Und sie verweist auf die unaufgearbeitete Vergangenheit in beiden Teilen Deutschlands. "Wir brauchen Zeit, nehmen wir sie uns und lassen wir uns von keinem drängen, Entscheidungen zu fällen, die aus Reformern Trittbrettfahrer einer Bewegung machen, die dann nicht mehr unsere Bewegung ist."

Zunächst ist vieles möglich: Der Wartburg Verlag darf sich wieder so nennen, firmierte er doch nach dem Ausscheiden Max Keßlers unter "Verlegerische Arbeitsstelle". Gottfried Müller wird Verlagsleiter und übergibt die Chefredaktion der Kirchenzeitung an Christine Lässig. Dietlind Steinhöfel erfüllt sich einen langen Traum und übernimmt die neu gegründete evangelische Kinderzeitschrift "Benjamin". Christliche Schulen und Kindergärten können entstehen.

Dann kommt der erste große Konflikt: Der Pastor der Lobetaler Anstalten, Uwe Holmer, nimmt im Februar den schwerkranken Erich Honecker auf, weil sich der Staat außerstande sieht, eine Lynchjustiz zu verhindern. Es gibt Proteste.

Wie soll es weitergehen? Schon im Januar fordern zwei Magdeburger Kirchengruppen, dass die Kirchen beider deutscher Staaten eine gemeinsame Ökumenische Versammlung einberufen sollen. Im April 1991 kommen hierzu in Erfurt 1000 Teilnehmer zusammen. Die Vereinigung Deutschlands war nach den Wahlen im März 1990 absehbar.

Gottfried Müller verlässt den kirchlichen Dienst und wird Medienminister in der letzten DDR-Regierung. Kirchenvertreter aus Ost und West schreiben: "Die Gefahr wächst, dass wir im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch einmal, wie nach dem letzten Weltkrieg, die eigene Geschichte verdrängen und uns keinen Raum für die notwendige Trauerarbeit lassen." Und Israel fürchtet ein Viertes Deutsches Reich.

Heftige Diskussionen kommen in der Kirche auf: Überlegungen, ein anderes Kirchensteuersystem einzuführen – nach dem Vorbild der Westkirche – führen umgehend zu Kirchenaustritten. Noch sind es vor allem jene, die auch vorher keine Kirchensteuer gezahlt haben.

Über beide Jahre wird heftig über die Einführung eines Religionsunterrichts gestritten. Viele votieren für die Christenlehre und gegen ein schulisches Fach. Bildungsdezernent Ludwig Große befürwortet letzteres. Schrittweise wird das Fach Religion in den Schulen eingeführt.

Die Ostkirchen wehren sich auch gegen die Übernahme des Militärseelsorgevertrages – nicht gegen die Seelsorge an Soldaten. Doch die Pfarrer sollen weiterhin nur der Kirche unterstehen, nicht der Armee. Zunächst gibt es im Osten ehrenamtliche Militärseelsorger.

Und wie sieht es mit dem Paragrafen 218 aus? Zahlreiche Artikel und Leserbeiträge sind in "Glaube und Heimat" zu finden. Es kann hier keine "glatten Lösungen" geben, sagen die Kirchenleitungen. Strafandrohung sei kein Mittel, betonen die Evangelische Frauenhilfe Ost und West.

"Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein!" Unter diesem Wort ruft die Kirche im Januar 1991 zu Gebeten gegen den Golfkrieg auf. Kirchen öffnen sich angesichts dieses Krieges für Deserteure.

Fundstücke

Kirchendemo: Am 28. November 1990 demonstrieren kirchliche Mitarbeiter vor dem Berliner Roten Rathaus. Sie fordern die Anerkennung ihrer kirchlichen Ausbildungsabschlüsse in der DDR. Diese steht infrage, da sich Berufsbilder in Ost und West nicht decken.
Ausländerfeindlichkeit: Die Kirchenleitungen der DDR drücken im Juni 1990 ihre Sorge wegen Gewalt gegen Ausländer aus. Der Mosambikaner Jorge Gomondai wird im April 1991 in einer Straßenbahn von Neonazis zusammengeschlagen und aus der Bahn gestoßen. Er stirbt an seinen Verletzungen.
Sowjetunion: Im Sommer 1991 wird Boris Jelzin Präsident der Sowjetunion. "Restaurative Kräfte haben die Reformpolitik verbannt", schreibt die Kirchenzeitung. Es wird zu Friedensgebeten für die SU aufgerufen.
Synagogen: In Berlin wird die große Synagoge nach ihrem Wiederaufbau ihrer Bestimmung übergeben. In Berkach bei Meiningen wird ebenfalls eine Synagoge wieder in Dienst genommen, die viele Jahre als Scheune zweckentfremdet war.

Autor:

Online-Redaktion

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

36 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Anzeige

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.