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der Jünger Philippus 3. Mai
VON DEM KULTÍGION

Philippus - der Pferdefreund - , dessen besonderem Tag wir am 3. Mai gedenken, bittet Jesus: "Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns" (Joh 14,8). Gott sich zeigen zu lassen - das ist die Aufgabe der Kirche, dieses Thema hat sie als ihre Kultur zu pflegen. (Kultur von colore - pflegen / cultus - das Gepflegte)

Wie lange schon gibt es eigentlich  das, was wir Kultur nennen? Sie ist eine seit tausenden von Jahren gewachsene und bestehende Sache, aus der man nicht ungestraft hinausspringt. Das Pferd wurde vor etwa 5.500 Jahren vom Menschen domestiziert. Und der Hund wurde vom Menschen vor etwa 140.000 Jahren als Haustier gewonnen. Das hatte für beide Spezies Auswirkungen auf ihre jeweilige Weltauffassung. Diese Änderung gehört noch in jene frühe Phase, als der Mensch Jäger bzw. Sammler und noch nicht sesshaft geworden war. Ganz allgemein gesagt - Kultur ist ein geistiges Orientierungssystem, welches erlaubt, ohne täglich viel Scherereien bestimmte Grundannahmen betreffs des „Seins in der Welt“ als notwendig und/oder als wahr zu akzeptieren, dieselben klug zu verstetigen und am Laufen zu halten. Und sie nicht täglich neu verhandeln zu müssen. 

Zu diesem Behuf werden (offiziell und später sogar institutionalisiert) innerhalb der geistigen Welt des Allgemein-Menschlichen bestimmte Erwartungs-Meridiane angezapft und mit genügend Inventar ausstaffiert und energetisiert. Das vollzieht sich innerhalb enorm langsam ablaufender Prozesse. Auf diese Weise entsteht mit der Zeit eine Art geistiger Parallelwelt – das sogenannte Kultigion (der Begriff ist eine Chimäre aus Kultur und Religion). Das Kultígion (Betonung auf der zweiten Silbe). Verschiedenste Grundarchetypen erhalten im Kultígion ihre Wohnungen – und diese Heimstätten liegen in einer extra für sie eingerichteten Welt von dinglichen Heiligtümern, Räumen, Ritualen, kleinen Narrativen und großen Erzählungen, die für den Einzelmenschen psychoenergetisch relevant werden, wichtig sind und relevant bleiben. Sie sind so etwas wie die Verlängerung der Situation in utero. Die personalisierten Archetypen gehören hierher, etwa der Vater, die Mutter, die Hexe und der weise Mann (C.G. Jung hat sich darüber weit und breit ausgelassen). Aber auch die Gruppe und der Clan, die dasselbe Lied anstimmen und zu singen ermuntern und zwingen.

Die auf diese Weise entstandene geistige Welt greift ins brutal Dingliche über und besetzt kleine und große Fetische. Sie besitzt zudem die paradoxe Eigenschaft, dass sie sowohl für den unbedarftesten Verstand immer noch irgendwie fassbar bleibt, aber zugleich auch für den filigransten Intellekt nie begreifbar sein wird. So erhält jeder einen von ihm selbst begehrten Hauptreiz – der eine das numinose Meinen, begriffen zu haben - der andere das transzendentale Glück hinsichtlich der Existenz eines Unverfügbaren. Ist das kein Kunststück? Es ist ein  g r o ß e s  Kunststück!
Dieses Kunststück gelingt, indem eine grandios verquirlte Mischung aus Angst und Hoffnung, Unendlichkeit und brutalster Realität vermittels der Biographie eines erfundenen und/oder historisch belegten Religionsstifters über Jahrtausende hin plastisch erzählt, ernsthaft kopiert, sakral beübt und rituell festgeschrieben wird. Krishna, Jesus, Maria, Mohammed sind beispielhafte Trägerfiguren des jeweiligen Kultígions. Weil das Kultígion mit den Ahnen verknüpft bleibt, ist es enorm schwierig, aus einer Religion ohne Angst auszusteigen. Man behauptet, es könne der Ausstieg trotzdem gelingen, - am leichtesten in einer säkular gewordenen Welt …

Vielfach ist auch der Ausstiegsphantasien wegen vermutet worden, das Religion und Kultur und das Kultígion eigentlich nur mentaler Schwindel wären. Aber, weil schon so lange und so genial überzeugend geschwindelt worden wäre, sei auch in gewisser Weise aus dem Trug richtige Wahrheit geworden. Jedenfalls würde einem sofort schwindlig werden, wenn man zu schwindeln aufhörte.
Beispiel - Was macht der Sufi-Derwisch, nachdem er mit dem Drehen um sich selbst aufgehört hat? Er fällt um, wenn er kein wirklich guter Derwisch ist. Brauchen wir diese Drehung, die einen Schwindel in eine akzeptierte und kulturell festgelegte zeitweilige Existenzweise verwandelt, nicht schon als lebens-überlebensnotwendige allgemeine Betätigungsweise? Nietzsche hat versucht, die oben beschriebenen Tatsachen dazu zu benutzen, die Religion zu dekonstruieren. Und er ist, als die Drehung für ihn aufhörte, “wahnsinnig“ geworden, – genau zu dem Zeitpunkt nämlich, als der Schwindel angeblich aufhörte. Es ist also nicht ungefährlich, aus dem Kultígion hinaus zu springen. Wie dem auch sei – Sprung oder Drinbleiben bleiben persönliche Entscheidung.

Es könnte durchaus sein, dass hinter dem Schwindel in der kristallenen Ruhe der Ewigkeit doch eine unbewegt lächelnde Wahrheit vorhanden ist, die wirklich alles (und damit sogar den Schwindel) – enthält. Und dass hinter den verschiedensten religiösen Fratzen aller Zeiten und Kulturen der Grundriss eines guten Gottesantlitzes nur darauf wartet, wie wir seine freundlichen Züge endlich mit eigenen Pinseln weiter ausmalen werden - wie ja daran tatsächlich schon lange gemalt worden ist und gemalt wird. Und, das ist die Behauptung: Die christliche Kirche hat es irgendwie geschafft, ein gutes „Gesicht Gottes“ in die Welt der Fratzen einzuschleusen. Seitdem geht der Herr Jesus in den Gedanken der abendländisch religiösen Welt auf und ab. Als entspannt freundlicher Peripatetiker - zugleich Gott und Mensch, gestorben und auferstanden.

Wer hat es bemerkt? Mit solchen analytischen Überlegungen waren wir eben ganz kurz aus dem Kultígion hinaus getreten – und sind ein paar Augenblicke später schon wieder nach hierhin zurückgekehrt. Aber - landet man nicht immer anders, als man vorher abgesprungen war? Und hat man sich dabei verändert - und ist zugleich derselbe geblieben? Genau das ist die Stärke eines Christentums, welches die Kritik an sich selbst mit den Mitteln der Vernunft als immanenten und wesentlichen Bestandteil immer bei sich führt. Denn der eigene Glaube, den man vorbehaltlos reflektiert, wird dadurch nicht zerstört, sondern verlässlicher und stärker.

Genau das ist es, was andere religiöse Kulturen vom christlichen Kultígion sich abschauen könnten …

Autor:

Matthias Schollmeyer

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