Erinnert: Edelbert Richter †
Ein großer Denker
Intellektuelles Vermächtnis: Der evangelische Theologe, DDR-Oppositionelle und Nachwende-Politiker Edelbert Richter ist am 23. Juli im Alter von 78 Jahren gestorben. Eine persönliche Erinnerung.
Peter Wensierski
Es war im Sommer vor mehr als 40 Jahren. Mit dem Fahrrad fuhren wir entlang der Saale, von Naumburg aus Richtung Süden, ziemlich langsam und meist nebeneinander. Durch die Blätter der Bäume blitzte immer wieder die Sonne auf. Edelbert redete, ich hörte zu. Es ging um Hegel, um das dialektische Denken, das seiner Ansicht nach nicht in ein geistloses Schema erstarren dürfe. Philosophie bedeute Bewegung im Denken, es gehe um lebendige Gedanken und manchmal auch um das Umschlagen der Gedanken in ihr Gegenteil …
Es war eine philosophische Radfahrt, wie ich sie nur einmal in meinem Leben erleben durfte – mit Edelbert Richter, der damals Studentenpfarrer in Naumburg und Dozent am Kirchlichen Proseminar war. Ich berichtete als junger West-Journalist aus der DDR und Edelbert war mir als besonderer Gesprächspartner empfohlen worden.
Edelbert bewohnte mit seiner Frau Andrea und den Kindern in der Naumburger Medlerstraße eine recht kleine, aber für alle Besucher stets offene Wohnung. Wenn man gegen Mittag ankam, war es selbstverständlich, dass man mit am Tisch saß. Seine Mutter hatte gekocht, die Mädchen waren aus der Schule zurück und Edelbert liebte es, wenn es hinterher Pudding mit selbst eingemachtem Obst gab. Dann vielleicht noch einen Schnaps und hinaus auf eine Bank in den blühenden Garten hinter dem Haus zur ersten Lektion für den Gast: Was war los in der ESG? Welche Konflikte hatte es zwischen Staat und Kirche gegeben? Welche könnte es – etwa durch den Wehrkundeunterricht – demnächst geben?
Anders als bei meinen Gesprächen mit Ost-Berliner Oppositionellen wurde es mit Edelbert aber viel, viel grundsätzlicher. Aktuelle Konflikte? Ja, schon, aber was ist mit den großen Linien in diesem Land? Was mit den Berührungspunkten von Religion und Marxismus? Was mit der Zukunft, wenn wir über die Vergangenheit sprechen? Er hat diese Offenheit in Gespräch und Gastfreundlichkeit gemeinsam mit seiner Frau Andrea gelebt. Sie war die Seele der Familie, arbeitete als Jugendpfarrerin und trug ihm die konkreten Fragen der Jugendlichen zum Leben in der DDR an. Mir schien, so blieb er bei seinen philosophischen Höhenflügen immer wieder geerdet.
Edelbert vertraute mir seine heimlichen Treffen mit kritischen SED-Mitgliedern an, bei denen er den Dialog mit der Macht von unten versuchte. Er nahm mich – den West-Korrespondenten – auch mutig mit in Wohnungen, in denen sich kritische Geister trafen, um über Wege aus dem erstarrten DDR-Sozialismus zu sprechen. Er zeigte mir das Naumburger Gefängnis, mitten der Stadt, mit Stacheldraht und roh zementierten Steinmauern ein ständig drohendes Mahnmal für Andersdenkende. Einmal diktierte er mir ein Buchmanuskript, das er verfasst hatte, komplett auf eine Tonbandkassette (die ich noch heute habe).
Es war schwer, in der Bundesrepublik öffentliches Interesse an einem linken Theologen wie ihn zu wecken. Oder war er ein religiöser Marxist? Jedenfalls war er ein Arbeitersohn, der 1961, im Jahr des Mauerbaus, ein Philosophie-Studium in Leipzig aufnehmen konnte, jedoch wegen kritischer Fragen noch im gleichen Jahr exmatrikuliert wurde und für zwei Jahre als Kranfahrer zur „Bewährung in die Produktion“ musste. In Halle und Naumburg durfte er die verwehrte Bildung nachholen und promovierte schließlich.
Um ihn herum bildete sich der noch immer bestehende „Naumburger Friedenskreis“ und der „Arbeitskreis Theologie und Philosophie“. Jahrelang sprach Edelbert oft davon, dass erst ein Ende der Ost-West-Blockkonfrontation zu Veränderungen in Deutschland und Europa führen könne. Darum trieb er mit Hilfe der im Untergrund hektografierten „radix-blätter“ diese Debatte in den späteren 80er-Jahren ständig weiter voran. Als einer der Hauptautoren dieses, von seinem Naumburger Theologie-Schüler Stephan Bickhardt und vom Berliner Mathematiker Ludwig Mehlhorn gemachten Debatten-Blattes schrieb er Texte wie den zur Überwindung der Blockkonfrontation in Europa unter dem Titel „Konsequenzen aus dem ›neuen Denken‹“.
Schon im Mai 1989 setzte er sich in einer Extra-Ausgabe der radix-blätter mit der deutschen Teilung auseinander und schlug zu deren Überwindung eine Konföderation beider Staaten vor. Dabei ging es ihm um die Wurzeln des Nationalsozialismus, die bis in die Gegenwart reichen, wie um die Verdrängung und Wiederkehr der Nachkriegszeit, letztlich um den Versuch, „neuen Boden“ unter die Füße zu bekommen.
Was Edelbert und viele andere in den Gruppen seit Jahren in der DDR erarbeitet hatten, sollte 1989 zusammenkommen: Engagement für den Frieden und Menschenrechte, Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit. Neue Koalitionen sollten die politisch-soziale Agonie überwinden. Als ich jetzt mit Bickhardt über den Tod von Edelbert Richter redete, sagte er mir: „Edelbert war ein großer Denker für die demokratiewilligen Menschen und ein Protestant durch und durch. Er hat die Welt genauso geachtet wie Gott!“
Im Januar 1990 trat Edelbert in die SPD ein, 15 Jahre später wieder aus – wegen deren Hartz IV-Politik. Sein Eintritt in die Linkspartei stieß auf Unverständnis bei alten Freunden. Edelbert erklärte es mir bei einem meiner letzten Besuche bei ihm in Weimar. Da kam er – für mich in Kenntnis seiner Krankheit überraschend munter – gerade mit dem Fahrrad aus der Stadt zurück.
Er habe lange mit diesem Schritt gezögert, sagte er. Ihn habe aber gestört, dass in unserem Land Leistungsgerechtigkeit das neue Wort für den alten theologischen Begriff Werkgerechtigkeit geworden sei. Es gehe aber um Bedürfnisgerechtigkeit, also um die gerechte Wahrnehmung der wirklichen Bedürfnisse von Menschen. Diese Gerechtigkeit sei für Christen wie ihn die heute notwendige Kapitalismuskritik.
Ich hätte gerne mit Edelbert darüber weiter gesprochen, vielleicht bei einer Radfahrt entlang der Saale. Aber nun fehlt er – für immer.
Der Autor war ab 1979 als jüngster westlicher Reisekorrespondent in der DDR für den Evangelischen Pressedienst tätig. Ab 1986 war er Redakteur beim ARD-Magazin "Kontraste". 1993 wechselte er zum "Spiegel".
Autor:Online-Redaktion |
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