Evangelische Marktwirtschaft
Arbeit als Gottesdienst: Das Verhältnis der Protestanten zur Wirtschaft war immer vielfältig. Da ist zum einen der Stolz darauf, dass sie es waren, die ein modernes, produktives Wirtschaften überhaupt erst in Gang setzten.
Von Gerhard Wegner
Ohne Luthers und Calvins Berufsethik und ihr Dienstethos, ohne Sparsamkeit und Hingabe an die Arbeit keine protestantische Arbeitsethik, kein ehrbares Handwerk und auch kein Unternehmertum. Die Reformatoren erklärten die Arbeit zum Gottesdienst, weswegen sie viele Feiertage abschafften und religiöse Energien in den Alltag umleiteten. Seitdem, so wird immer wieder gerne erzählt, waren die evangelischen Gegenden, besonders die reformierten, wirtschaftlich ganz vorne. Genau deswegen – nicht aus Nächstenliebe – holte seinerzeit der Große Kurfürst die strebsamen Hugenotten nach Brandenburg und Berlin.
Und so blieb das auch bis ins 19. Jahrhundert hinein. Die großen Unternehmergestalten der Gründerjahre: mit großer Mehrheit Protestanten. Lange blieben die katholischen Gegenden im Rückstand. Protestantismus und Wirtschaft legitimierten sich so gegenseitig: Wer modern sein wollte, der gehörte zu beidem dazu, war liberal – und mit Verachtung schaute man auf die anderen, die anscheinend in jeder Hinsicht rückwärtsgewandten Katholiken.
Aber da gab es durchaus auch Bedenken. Die neue Wirtschaft, bald als Kapitalismus bezeichnet, sprengte in ihrer Aggressivität alles, was die Gesellschaft bis dahin zusammengehalten hatte: moralische Maßstäbe, Gemeinschaften, Schutz der Schwachen, Ordnungen aller Art, die Orientierung und Halt vermittelten. Je länger desto deutlicher schien nun nur noch das Geld, der Profit, die Konkurrenz zu regieren. Der Mensch – nur noch Mittel zum Zweck? Was hatte man da bloß losgetreten? Die Protestanten begannen sich zu besinnen und verpflichteten nun den Staat, um auch in der Wirtschaft mit Gesetzeskraft »von oben« für menschliche Maßstäbe zu sorgen. Dafür wurde ein »soziales Königtum« gefordert und einer der ganz großen evangelischen Reformer, Bismarck, bekannte sich gar – mit vielen anderen – als »Staatssozialist« – was allerdings mit dem Sozialismus der Arbeiterbewegung nichts zu tun hatte. Den lebendigen Kontakt zu ihr verlor die obrigkeitstreue Kirche. Und als dann 1919 die Könige und der Kaiser über Nacht verschwanden, wurden die Protestanten reaktionär – mit fürchterlichen Folgen. Zur Wirtschaft verloren die meisten den Bezug; man zog sich in den sozialen Bereich zurück. Innere Mission und Diakonie wurden zu Bewährungsfeldern der evangelischen Christen, während die Katholiken sehr erfolgreich die deutsche Wirtschafts- und Sozialordnung prägten.
Aber dann waren es 1945 im Westen wiederum hauptsächlich Protestanten, die nun etwas völlig Neues konzipierten: die Soziale Marktwirtschaft als Dritten Weg zwischen angelsächsischem liberalen Marktkapitalismus und dem realen Sozialismus in der DDR und anderswo. Im Osten blieben Christen von politischer Mitgestaltung ausgeschlossen. Die Idee war: Man braucht eine starke unternehmerisch angetriebene Marktwirtschaft, um eine flexible Versorgung der Menschen sicherzustellen –
und man braucht sozialen Ausgleich. Konkurrenz in der Wirtschaft ist nötig, um Machtballungen zu verhindern. Leistung muss gerecht belohnt werden; etwas, was den Deutschen bis heute ganz wichtig ist. Und natürlich braucht es soziale Sicherungen gegen Armut, Alter, Krankheiten, Arbeitslosigkeit: einen Sozialstaat.
Und heute? Der Wohlstand wächst immer weiter – die durchschnittliche Lebenserwartung steigt alle vier Jahre um ein Jahr. Angst vor Arbeitslosigkeit haben zur Zeit nur wenige Menschen. Und doch gibt es viel Kritik. Die soziale Ungleichheit ist gestiegen. Deutschland gehört tatsächlich nur wenigen Reichen. Und der Unterschied zwischen Ost und West verschwindet nicht aus der Welt. Neue Trends – Digitalisierung – machen Angst: Wer kann da auf die Dauer noch mithalten? Armut ist gerade im reichen Deutschland ganz bitter, und Hartz IV ist sicherlich kein Ermutigungsprogramm. Ist das wirtschaftliche Leben von christlichen Werten bestimmt? Zweifel bleiben.
Der Autor ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Institutes der EKD.
Autor:Online-Redaktion |
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