Pro und Kontra: Müssen wir noch von »Sünde« reden?
JA, denn sonst wird man der Wirklichkeit des Menschen nicht gerecht. Sünde braucht man, um von Vergebung zu reden – und von Gottes guter Gegenwart.
Von Ingolf U. Dalferth
Die Frage ist nicht ob, sondern wie man von Sünde redet. Man ändert die Wirklichkeit nicht, indem man die Augen vor ihr verschließt. »Sünde« ist die theologische Kurzformel unserer Lebenswirklichkeit. Sie sagt, was der Fall ist, ob wir das Sünde nennen oder nicht.
Auch wer das nicht tut, meint ja zu wissen, was Sünde ist: Unkeuschheit, Hochmut, Neid, Eifersucht, Zorn, Groll, Bitterkeit, Geiz, Habsucht, Unmäßigkeit, Herzlosigkeit, Gier, Trägheit, Lustlosigkeit – die klassischen Hauptsünden bieten ein schier unerschöpfliches Arsenal von Beispielen.Nirgends redet die Theologie so lebensnah und erfahrungsgesättigt wie hier. Und nirgends lassen wir uns so leicht durch die Bäume den Blick auf den Wald ver-
stellen.
Weithin sind Beispiele und Erläuterungen der Sünde an die Stelle der Sache getreten. Man sieht vor lauter Sünden die Sünde nicht mehr. Und weil man sich an den Moralbeispielen stößt, entsorgt man gleich das ganze Thema.
Theologisch ist das nicht progressiv, sondern töricht. Man korrigiert keine Fehler, indem man neue begeht. Sündenrede ist keine Moralkeule anderen gegenüber, sondern Selbstbekenntnis vor Gott: »Vergib uns unsere Schuld«. Es geht nicht um ein sündenverbiestertes Menschenbild, das schlechtredet, was gut ist, sondern um das Bekenntnis, dass man Gott nicht beachtet und falsch gelebt hat. Ich bekenne und beklage, was ich getan, übersehen oder unterlassen habe. Dafür bitte ich Gott um Vergebung.
Christen sprechen von der Sünde in der ersten Person, einzeln und zusammen. Sie werfen nicht anderen etwas vor, sondern bitten um Vergebung für ihr eigenes Versagen. Das versteht sich nicht von selbst. Sünder sind die letzten, die sich so bezeichnen. Das ändert nichts daran, dass sie es sind.
Sie sind wie wir: freundliche Langweiler, moralische Bösewichte, Gutmenschen, angeödete Indifferente. Sie verschließen sich nicht dem Elend der Welt. Aber sie sehen auch keinen Anlass, Gott für das Gute in ihrem Leben zu danken. Gottes Gegenwart hat wenig Gewicht für sie. Das macht sie zu Sündern.
Sünde ist kein Verstoß gegen ein Moralprinzip, sondern Undankbarkeit gegenüber Gottes guten Gaben. Verfehlung, Dummheit und Bosheit sind, was sie sind. Sünde aber ist das, was Gott durch das Gute überwindet, das er in unserem Leben wirkt. Nur von hier aus und damit im Rückblick kann man von Sünde reden.
Dann aber zeigt sich in tausendfacher Brechung immer dasselbe: der Irrtum, wir könnten ohne Gott leben oder gut leben oder gar besser leben als mit Gott. Man muss diesen Irrtum selbst nicht als Mangel erleben. Unsere Sünde zeigt sich in unseren Stärken nicht weniger als in unseren Schwächen und Schwierigkeiten.
Wir wissen, wie selten uns Gutes gelingt und wie viel Böses und Übles wir verschulden. Doch das ist noch keine Sündenerfahrung. So verstanden wäre Sünde ein moralischer Mangel und die Überwindung der Sünde die Korrektur unserer Defizite. Das klingt gut und geht doch am Entscheidenden vorbei. Gottes Güte ist weit mehr als die Lösung unserer Probleme. Wir brauchen Gott nicht erst dann, wenn wir mit unserem Leben nicht mehr zurechtkommen, sondern Gott zieht uns in den unendlichen Überfluss seiner Liebe hinein, lange ehe wir merken, wie sehr wir ihn brauchen.
Wer die Rede von Sünde aus dem Nachdenken über die Menschen verbannen will, spricht den Menschen ab, dass Gott ihnen Gutes tun kann. Das unterschätzt Gott und degradiert die Menschen. Sündenrede ist keine Herabwürdigung der Menschen, sondern die Erinnerung daran, dass Gott jedem guttut.
Mit der Sünde macht man daher nicht Schluss, indem man nicht mehr von ihr spricht, sondern indem man Gott dankt, der sie beendet.
Ingolf U. Dalferth ist Professor für Systematische Theologie und lehrt an der Claremont Graduate University (USA) Religion und Philosophie. Derzeit ist er Leibniz-Professor in Leipzig.
NEIN, zumindest nicht so, wie wir es gewohnt sind. Denn Jesus hat die bedingungslose Liebe gepredigt. Wohl aber, wenn heute Leben gefährdet oder zerstört wird.
Von Klaus-Peter Jörns
Die Wortgruppe »Sünde«, »Sünder/in« und »sündig« lässt sich, wenn es um das damit Bezeichnete geht, nicht leicht gegenüber der Wortgruppe »Schuld«, »schuldig sein«, »schuldig bleiben« abgrenzen. So benutzt selbst das Vaterunser im Zusammenhang mit Gottes und unserer Vergebung nicht das geläufige griechische Wort für »Sünde«, sondern das für »Schuld«. Das entspricht auch unserem Sprachgebrauch.
Anders sieht es in der kirchlich-theologischen Nischen-Sprache aus. In der Bibel ist »die Sünde« die oft quasi personenhaft auftretende widergöttliche Macht des Bösen (z. B. 1. Mose 4,7!), in deren Fänge der Mensch durch den »Sündenfall« geraten ist, weil er Gottes Gebot nicht gehorcht hat. Akzeptiert ein Christ sein Sündersein, muss er sich als des Todes würdig ansehen.
Die darin erkennbare Gottesvorstellung entstammt Klischees von einem absolutistisch regierenden Großkönig, dessen Ansprüchen keiner seiner Untertanen genügen und für dessen Gnadenerweise niemand ihm genug danken kann. Ist also das Menschsein wegen unserer Sünden generell des Todes würdig?
Diesen Gebrauch von »Sünde« kann ich nicht akzeptieren. Zuerst, weil Jesus unser Lebensrecht nicht vom Maß unseres Gehorsams gegen Gebote, sondern von der bedingungslosen Liebe Gottes abhängig gemacht hat. Er hat erlebt, dass das Leben schwer ist, gerade wenn wir gut sein wollen. Gottes Gebote sind nach Jesu Worten kein Selbstzweck, sondern dazu da, uns zu einem liebevollen Menschsein zu helfen (Markus 2,27).
Wenn wir Schuld auf uns laden, ist nicht Strafe oder gar Todesstrafe die Antwort, sondern Vergebung, und zwar ohne dass zuvor Blut hat fließen müssen! Allein aus Liebe zum Leben. Der einzige Auftrag, den der Auferstandene den Jüngern nach Johannes 20,23 gibt, ist, einander die Sünden zu vergeben. So soll ein Christ »Licht der Welt« sein.
Es geht also nicht an, dass wir das Wort »Sünde« in ständiger Reproduktion biblischer Wendungen benutzen, ohne die Implikationen kritisch mit zu bedenken. Theologie verfehlt ihr Handwerk als Wissenschaft, wenn sie die historische Kritik unserer Überlieferungen nicht endlich durch eine theologische Kritik ergänzt. Dazu aber ist es nötig, den Bezugsrahmen der Bibelauslegung nicht wieder auf die Bibel zu begrenzen. Sondern, wir müssen in unser Menschenbild alles einbeziehen, was aus anderen Wissenschaften und Quellen von uns Menschen und unserer Herkunft zu sagen ist.
Dazu gehört nicht zuletzt die Erkenntnis, dass wir unsere tierliche Herkunft nicht wirklich hinter uns haben, sondern bleibend in uns. Wir haben mit den Tieren ein gemeinsames Gedächtnis dessen, was in der wilden tierlichen Existenz dem Überleben diente. In Situationen, in denen wir die in unserer Kultur erlernte Kontrolle über unsere Impulse und Motive verlieren, bieten sich uns manchmal »wilde« Erfahrungen als Handlungsmodelle an – zum Beispiel im Straßenverkehr, wenn uns altes Beutejagd- oder Kampfverhalten für kurze Momente, bildlich gesagt, das Steuer aus der Hand nimmt. Mit Gottfeindschaft hat das aber nichts zu tun.
Nur in einem Zusammenhang halte ich den Gebrauch des Wortes »Sünde« für sinnvoll: Da, wo Menschen bewusst und gezielt gegen das Leben vorgehen, Menschen und Tiere als Instrumente gegen das Leben benutzen oder Leben aus Gewinnsucht gefährden – also zum Beispiel in angezettelten Kriegen, durch systematische Täuschungen über tatsächlich produzierte lebensgefährliche Abgase von Motoren und dergleichen. Das sind Sünden gegen das Leben, in denen ich Jesu Wort von der »Sünde gegen den Heiligen Geist« heute aktualisiert sehe.
Allerdings gilt auch für diese Sünden, dass sie um der unbedingten Liebe Gottes willen vergeben werden können, wenn dafür die Verantwortung übernommen wird.
Klaus-Peter Jörns lehrte Praktische Theologie und Religionssoziologie an der Universität Berlin. Seit dem Eintritt in den Ruhestand 1999 ist er als erfolgreicher Buchautor tätig.
Autor:Online-Redaktion |
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