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Bürgerrechtler für mehr Bürgerbeteiligung
»Wählen allein reicht nicht«

Demokratie ent-wickeln! - 265.000 Blatt Papier, aufgeschichtet im Erfurter Kaisersaal im August 2008. Ralf-Uwe Beck vor den Unterschriften für das Volksbegehren "Mehr Demokratie in Thüringer Kommunen". | Foto: Sascha Willms
  • Demokratie ent-wickeln! - 265.000 Blatt Papier, aufgeschichtet im Erfurter Kaisersaal im August 2008. Ralf-Uwe Beck vor den Unterschriften für das Volksbegehren "Mehr Demokratie in Thüringer Kommunen".
  • Foto: Sascha Willms
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Mitbestimmung: Die Weimarer Republik war Deutschlands erste Demokratie. Was ist aus dem Experiment geworden? Ralf-Uwe Beck, der Bundes­vorstandssprecher vom Verein »Mehr Demokratie!«, glaubt, dass unsere Demokratie nur mit stärkerer Bürgerbeteiligung eine Zukunft hat.

Herr Beck, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 30 Jahre Friedliche Revolution – zwei Jubiläen in diesem Jahr. Was machen wir damit?
Beck:
Die Jubiläen könnten uns zu demokratischen Aufbrüchen motivieren. Erinnerungsfolklore wäre zu wenig. Schließlich ist die Demokratie in Gefahr, viel zu viele Menschen entziehen ihr das Vertrauen, wenden sich ab und lassen ihr Wahlrecht verkümmern. Ein erschreckend oft gehörter Satz ist: »Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen.« Das ist ein Satz, der zu einer Monarchie, bestimmt auch zu einer Diktatur passt, nicht aber zu einer Demokratie, die genau das vermeiden will.

Worauf führen Sie diesen Vertrauensverlust zurück?
Beck:
Die Menschen verlangen nach einer sach-, weniger nach einer machtorientierten Politik. Sie erwarten, dass Regierung und Opposition um die beste Lösung ringen. Auf dieses Wechselspiel gebe ich bei Wahlen einen Vertrauensvorschuss, weniger an eine einzelne Partei. Stattdessen wird viel zu oft durchregiert und wir erleben einen ritualisierten Schlagabtausch. Ich werde als Wähler auch enttäuscht, weil Lobbyinteressen und damit der Einfluss der Konzerne eine so große Rolle spielen, nach der Wahl vor der Wahl ist und sich zwischen den Scheuklappen der Legislaturperioden die Probleme türmen.

Und wie wollen Sie dem abhelfen?
Beck:
Wir müssen uns um alle drei Säulen kümmern, die unsere Demokratie abstützen: das Wahlrecht, die Bürgerbeteiligung und die direkte Demokratie. Und gleich vorweg: es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Die Wahlen sind Dreh- und Angelpunkt. Aber es genügt nicht mehr, den Menschen zu sagen: »Wenn euch etwas nicht passt, könnt ihr ja euer Kreuz das nächste Mal woanders machen.« Die Leute wollen gefragt werden und sich auch ungefragt einmischen, notfalls selbst entscheiden. Wählen allein reicht nicht. Und wie wir wählen, ist reformbedürftig.

Inwiefern?
Beck:
Wir sollten mit unseren Stimmen mehr Einfluss darauf haben, welche Politiker uns im Landtag und Bundestag vertreten. Wie bei Kommunalwahlen sollten wir mehrere Stimmen haben, die wir auf die Kandidaten auch unterschiedlicher Parteien verteilen können. Die von Parteien aufgestellten Listen nur abnicken oder ablehnen zu können, ist zu wenig. Ein anderer Vorschlag ist die Einführung einer Proteststimme. Wer mit allen Parteien, der Politik allgemein, unzufrieden ist, bleibt entweder zu Hause oder wählt extrem. Wie wäre es, wenn ich ankreuzen könnte, dass ich mich enthalte, weil ich keinen Kandidierenden und keine Partei wählen mag, aber mir mein Wahlrecht wichtig ist? Würden diese Stimmen ausgewiesen, könnte das zu einem ehrlichen Signal an die Politik werden.

Wie reagieren die Parteien auf solche Ideen?
Beck:
Parteien fragen sich zumeist, ob solche Vorschläge für sie, nicht so sehr, ob sie für die Bürger attraktiv sind. Deshalb haben wir für Thüringen ein Gesetz ausgearbeitet, mit dem es bei Kommunalwahlen möglich sein soll, Instrumente auszuprobieren, mit denen sich die Wahlbeteiligung steigern lässt. So könnten Erfahrungen gesammelt werden. Wir schlagen sieben Instrumente vor, darunter die eben erwähnte Proteststimme oder die automatische Zustellung von Briefwahlunterlagen, wie das die EKM bei den Gemeindekirchenratswahlen praktiziert. Stellen wir uns vor, in einer Kommune gäbe es vor einer Wahl eine Bürgerversammlung, in der diskutiert wird, was bei der anstehenden Wahl einmal ausprobiert werden sollte. Die Demokratie würde vor Freude in die Hände klatschen.

Sie hatten auch die Bürgerbeteiligung als Reformfeld erwähnt …
Beck:
Wir brauchen eine andere Beteiligungskultur. Nicht Menschen mit ihrer Kritik und ihren Ideen abspeisen nach dem Motto: Kleinvieh macht auch Mist. Das Gegenprogramm heißt: Viele Krumen machen ein Brot. Es genügt nicht, bei Planungsverfahren die vorgeschriebene Bürgerbeteiligung abzuarbeiten. Kommen die Bagger, kommt der Widerstand. Menschen frühzeitig beteiligen, das wird überall auf der Welt neu geübt: Aus Brasilien kommt der Bürgerhaushalt, in Island und auf Kuba schreiben die Bürger eine neue Verfassung mit, in Irland bereiten per Los ausgewählte Bürger gemeinsam mit Politikern Volksentscheide vor, in Thüringen stellt der Landtag Gesetzentwürfe in ein Diskussionsforum und alle können sich äußern. Planungszellen und Bürgergutachten haben Konjunktur und die ersten Kommunen schreiben Beteiligungssatzungen.

Wozu dann noch die direkte Demokratie?
Beck:
Wir sollten die Bürgerbeteiligung kreativ ausbauen und ganz viel probieren. Sonst können sich die Menschen Gehör verschaffen, sie haben aber kein Recht darauf, auch gehört zu werden. Die Gewählten entscheiden, wie sie mit dem, was die Leute vorbringen, umgehen. Muss die Politik damit rechnen, dass die Menschen mit einem Bürgerbegehren in der Kommune oder einem Volksbegehren auf Landesebene eine Sache selbst in die Hand nehmen, werden sie ernster genommen, wird mehr mit ihnen geredet, weniger über ihre Köpfe hinweg entschieden. Die direkte Demokratie ist das Damoklesschwert über der politischen Bühne, macht der repräsentativen Demokratie aber diese Bühne nicht streitig, sondern verhilft ihr zu halten, was uns mit ihr versprochen ist, nämlich dass um die beste Lösung gerungen wird.

Das heißt, wir erleben so wenige Abstimmungen, weil die Menschen mit der Politik so zufrieden sind?
Beck:
Schön wär’s. Oft sind die Unterschriftenhürden zu hoch oder Themen gar nicht zulässig. Manche Instrumente fehlen völlig. Hier sind Reformen fällig. In Thüringen haben wir gerade die aussichtsreichste Konstellation für eine Volksbegehrensreform: Die rot-rot-grüne Koalition hat vorgeschlagen, die Unterschriftenhürde zu senken und finanzwirksame Volksbegehren endlich zuzulassen. Und die CDU will das fakultative Referendum einführen, ein Vetorecht, mit dem Bürger Gesetze, die der Landtag beschlossen hat, zurückholen können. Das gibt es in der Schweiz seit 140 Jahren, in Deutschland noch nirgendwo. Würden beide Vorschläge vereint, könnte der Freistaat Verfassungsgeschichte schreiben, besser ließen sich die Jubiläen gar nicht feiern.

Aber macht Sie nicht stutzig, dass auch die AfD einen Ausbau der direkten Demokratie fordert?
Beck:
Die AfD will Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild. Vorsicht, Falle. In der Schweiz können mit Volksentscheiden Grund- und Minderheitenrechte angetastet werden, in Deutschland nicht. Und das ist auch gut so. Hier würden solche Volksbegehren vom Verfassungsgericht gestoppt. Die Schweiz aber hat gar kein Verfassungsgericht, dafür aber Nachholbedarf, die Demokratie mit den Menschenrechten auszusöhnen. Die Überprüfung von Volksbegehren, ob sie mit der Landesverfassung und dem Grundgesetz konform gehen, ist jedenfalls unaufgebbar. Das gilt auch, wenn endlich der bundesweite Volksentscheid eingeführt wird.

Aber hat nicht der Brexit gezeigt, wie gefährlich das wäre?
Beck:
So wie der Seismograf nicht für das Erdbeben verantwortlich gemacht werden kann, hat der Brexit nur offenbart, wie es um die EU bestellt ist. Juncker und Macron haben den Knall gehört und Vorschläge gemacht, wie die EU demokratisiert werden könnte. Verkannt wird aber auch, dass der Brexit eine von oben angesetzte Befragung war, mit der Cameron seine Macht erhalten wollte. Das hat mit der direkten Demokratie, wie wir sie in den 16 Bundesländern kennen, überhaupt nichts zu tun. Volksbegehren sind keine Regierungsinstrumente, sondern gehören in die Hand der Bürger. Die Zivilgesellschaft erstarkt, sie legt den Finger in die Wunden drängender Probleme, nur fehlt ihr das Instrument, sich durchzusetzen.

Und Sie trauen den Menschen zu, dies auch verantwortlich zu nutzen?
Beck:
Luther hat die Bibel übersetzt, damit sich alle Menschen selbst ein Urteil bilden können. Er hat von der Wartburg hinunter ins Land gerufen: Lest selbst, denkt selbst, handelt danach. Es kommt auf jede und jeden an. Alle Menschen sollen Entscheidungen, die sie oder die Gemeinschaft, in der sie leben, betreffen, beeinflussen können. Das ist die Idee der Demokratie. Wenn wir aufhören, daran zu arbeiten, fängt die Demokratie an, aufzuhören.

Die Fragen stellte Diana Steinbauer.

Hintergrund
Mehr Demokratie ist ein Verein, der sich für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung sowie Reformen des Wahlrechts in Deutschland und der Europäischen Union einsetzt. Der Verein berät Initiatoren von Bürger- und Volksbegehren und wertet die Praxis der direkten Demokratie wissenschaftlich aus. Als weltweit größter Fachverband für direkte Demokratie begleitet der Verein Reformen der direkten Demokratie, erstellt Gesetzentwürfe und initiiert Volksbegehren.
Ralf-Uwe Beck ist evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler aus Eisenach. Nach einer Ausbildung zum Traktoristen hat er in Jena evangelische Theologie studiert. Von 1987 bis 1995 war er Gemeindepfarrer in Pferdsdorf im thüringisch-hessischen Grenzgebiet. Beck leitet die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Landeskirchenamt der EKM.

Autor:

Online-Redaktion

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