Bleistift trifft auf Revolver: Wilson und sein Schulweg der Angst
Den Anblick der Leiche seiner Tante wird der Neuntklässler Wilson nie vergessen. Sie lag blutend auf dem Asphalt, ermordet von Auftragskillern.
Von Andreas Boueke
In den Armenvierteln von Guatemala-Stadt werden Schulkinder häufig Zeugen von Verbrechen und Gewalt. Viele trauen sich nicht mehr auf die Straße und brechen die Schule ab, weil der Weg dorthin zu gefährlich ist. Wilson macht weiter. Aber bevor er morgens aus dem Haus geht, gibt er seiner Mutter immer einen zärtlichen Kuss. »Ich weiß ja nie, ob ich sie wiedersehen werde.«
Die Direktorin der Sekundarschule im Armenviertel La Peréz im Osten von Guatemala-Stadt möchte ihren Namen nicht nennen. »Seit 2011 bin ich für die Kinder an dieser Schule verantwortlich«, sagt sie und wirkt dabei wie eine Rebellin, die sich gegen die Atmosphäre der Gewalt auflehnt. »Unser Gebäude ist von einem Markt umgeben. Das Verbrechen ist immer ganz nah. Es gibt auch Tote. Das beeinflusst natürlich den Schulalltag. Viele Eltern haben Angst. Einige haben ihre Kinder von der Schule genommen.«
Die vierzehnjährige Mareli ist die beste Schülerin ihres Jahrgangs. Sie möchte auf jeden Fall einen Abschluss machen, aber sie weiß nicht, ob das möglich sein wird. »Ich habe gesehen, wie unsere Lehrerin erschossen wurde. Wir kamen gerade aus dem Schulgebäude, da fielen die Schüsse. Alle haben geschrien: ›Das Fräulein ist getroffen.‹ Es gab noch mehr Verletzte. Wir haben nie erfahren, warum sie ermordet wurde.« Die Direktorin bemüht sich um Schutz für die Kinder. Das ist eine heikle Sache. »Wir sind zum Bürgermeister gegangen«, erzählt sie. »Er hat uns in seinem Büro empfangen. Plötzlich war da ein Fotograf. Am nächsten Tag stand auf der Internetseite des Rathauses ein Foto von mir mit dem Bürgermeister. Dazu die Überschrift: ›Eine Schuldirektorin bittet um Schutz vor Erpressung.‹ Zwei Tage später haben die Jugendbanden mich persönlich bedroht. Sie schrieben mir, ich hätte sie verraten. Sie würden auch mich töten.« Einige Wochen lang kam die Direktorin nicht zur Schule. »Aber jetzt ist sie wieder da«, sagt Mareli mit sorgenvollem Blick. »Ich glaube, sie hat Angst.«
Nur jeder vierte Jugendliche in Guatemala besucht eine Sekundarschule. Der fünfzehnjährige Wilson sieht Bildung als seine beste Chance, eines Tages aus dem Armenviertel rauszukommen. »Wir wohnen am Ende einer Sackgasse. Hier fühle ich mich noch sicher. Aber sobald ich auf die große Straße komme, weiß ich nicht, was mich erwartet.«
Schon nach wenigen Metern trifft Wilson auf einen Mann in schmutzigen Hosen und einem grauen Unterhemd. Er ist wohl betrunken oder vielleicht auch auf Drogen. Er bedrängt den Jungen, ihm etwas zu essen zu geben. Aber Wilson geht unbeirrt weiter. Er biegt auf die Hauptstraße seines Viertels. Der schmale Bürgersteig ist voller Produkte, die zum Verkauf angeboten werden: Gemüse und Fleisch, Spielzeug und Plastikbecher, Gebrauchtkleider und Holzbesen. Der Junge trägt das blitzsaubere, weiße Hemd seiner Schuluniform. Er deutet auf eine sandige Stelle am Boden. »Dort habe ich neulich gelegen. Ich kam genau in dem Moment vorbei, als geschossen wurde. Alle Leute warfen sich auf die Erde. Ein Mann wurde getötet. Er hatte einen Verkaufsstand mit Fleisch und Wurst.« Bei solchen Morden geht es oft um Erpressungsgeld. Einige Ladenbesitzer wollen nicht zahlen oder können nicht.
Einen anderen Weg zur Schule gibt es nicht. »Einige meiner Freunde bleiben zu Hause. Die Eltern sagen, es sei zu gefährlich. Als letztes Jahr zwei Schüler getötet wurden, sind viele andere nicht mehr gekommen. Genau hier, wo wir gerade stehen, ist der Junge gestorben. Dort unten hat das Mädchen einen Querschläger abbekommen. So was passiert innerhalb von Sekunden.«
In Guatemala werden im Schnitt täglich vierzehn Menschen ermordet, die meisten Fälle bleiben unaufgeklärt. Die letzten Monate waren besonders brutal. Wilson hat keine Ahnung, weshalb. Er ist froh, dass die Polizei reagiert. Auf den Hauptstraßen patrouillieren jetzt einige Polizisten. »Die Zahl der Verbrechen hat deutlich zugenommen«, erklärt ein Mann in Uniform. »Wir tun was wir können. Aber wir haben nicht genug Personal.«
Die Straßenverkäufer legen ihre Produkte jeden Morgen sehr früh aus. »Uns wird das Leben schwer gemacht«, sagt ein junger Mann, der vor dem Bauch eine Art Tisch trägt, auf dem Süßigkeiten und Plastikprodukte liegen. »Die Banden erpressen uns, obwohl wir nur wenig verdienen. Einige von uns wurden getötet, weil sie ihre Quote nicht gezahlt haben. Mir bleibt nichts anderes übrig, als jeden Monat zweihundert Quetzales zu zahlen.« Das sind mehr als zwanzig Euro und entspricht in etwa dem Verdienst von drei Tagen.
Wilson geht an einer hohen Mauer vorbei, hinter der ein paar wohlhabende Familien leben. Vor dem Eingangstor steht privates Sicherheitspersonal, das überprüft, wer reinkommen darf. In Guatemala gibt es siebenmal mehr private Sicherheitsleute als staatliche Polizisten. Wer am Schlagbaum vorbeikommt, trifft auf eine völlig andere Atmosphäre. Die Straßen sind leer. Die Bewohner halten sich in ihren Häusern auf. Wer raus will, fährt Auto. Zu Fuß geht fast niemand. Wilson kennt keines der Kinder, die hier wohnen. »Die haben Chauffeure und Bodyguards, um überall sicher hinzukommen und besuchen Privatschulen. Das können sich meine Eltern nicht leisten.«
Ein paar hundert Meter weiter wird es plötzlich laut. Der Markt beginnt. Wilson erinnert sich an den Stand seiner Tante: »Ich bin jeden Tag zu ihr gegangen. Sie hat immer nett gefragt, wie es mir geht. Aber wenn ich jetzt dorthin schaue, ist der Platz leer. Sie ist 36 Jahre alt geworden.« Ein Mann, der Schuhe repariert, kann sich gut an den Tag erinnern. »Es war sehr früh morgens. Die beiden Killer kamen auf einem Motorrad. Einer ist abgestiegen und hat sie exekutiert.« Er habe den Schützen gesehen: »Er war nicht viel älter als zwölf Jahre. Diese Kinder werden von Erwachsenen geschickt, die ihnen ein bisschen Kleingeld geben.«
In den Tagen nach dem Tod seiner Tante fiel es Wilson schwer, seine Hausaufgaben ordentlich zu machen. »Doch nach einer Weile habe ich mir gesagt: ›Was soll das? Das war eben ihr Schicksal. Gott hat es so geplant.‹ Das muss ich akzeptieren. Als es passiert ist, habe ich mich sehr schlecht gefühlt. Aber jetzt ist wieder alles normal. Es bleibt nur ein trauriges Gefühl.«
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.