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Wo war Gott in Buchenwald?

»Ich lebe und ihr sollt auch leben« ist das Vermächtnis von Ivan Ivanji (88). | Foto: Maik Schuck

KZ-Überlebender: Der Serbe Ivan Ivanji war Gast beim Kirchentag in Weimar. Kann jemand nach Auschwitz und Buchenwald überhaupt noch an einen Gott glauben?

Von Ulrike Greim

Heiter sitzt er auf der Bank vor der Jakobskirche in Weimar. Wie immer gediegen im Anzug, etwas gebeugt, gelassen, gut gelaunt im Gespräch. Schlohweißes Haar, die Wangen etwas eingefallen, der Blick ist wach. Ein klein wenig Aufregung ist dabei. Dennoch blitzt immer sein Witz durch. Er ist gesegnet mit viel Humor, auch rabenschwarzem: Ivan Ivanji. Serbischer Schriftsteller, Übersetzer, Diplomat.
Gleich hat er eine von vier Veranstaltungen auf dem Kirchentag in Weimar, für ihn die wichtigste: »Wo war Gott in Buchenwald?« Er hat sich vorbereitet. Will ehrlich sein – auch sich selbst gegenüber. Er hat die Konzentrationslager überlebt, ist einer der wenigen noch lebenden Zeugen.
Sein Deutsch ist perfekt. Nur an seinem kleinen Akzent hört man, dass es nicht seine Muttersprache ist. Wohl aber die seines »Kinderfräuleins«. Im Banat geboren, also im sprachlich-kulturellen Grenzgebiet zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn, wächst er als Kind einer Arztfamilie auf. Erst mit den Nazis wird ihm seine jüdische Herkunft bewusst. Das Hebräische hört er erstmals im KZ und ahnt: Damit muss zu tun haben, dass er verhaftet wurde. Wegen seines Seins als Jude, das ihm nichts bedeutet hat, aber offensichtlich seinen Peinigern. Da ist er 15 Jahre alt. Verschleppt aus seiner Heimat über tausend Kilometer weit weg. Erst nach Auschwitz, dann nach Buchenwald, dann in zwei weitere Außenlager.
Die drei Stufen zur Kirche hoch stützt ihn sein Sohn Andrej. Alleine ginge es nicht mehr. Dann nimmt er im Podium der Kirche Platz. Nach seinem Glauben befragt, erzählt er, dass er schnell noch reformiert getauft wurde und der Taufschein ihm wohl drei Jahre KZ erspart habe, weil er – zumindest eine Zeit lang – als ungarischer Christ durchkam. Wie er eigentlich fromm gewesen sei, aber Gott ihn im Lager offensichtlich verlassen habe. Er zitiert aus dem Samuelbuch eine Passage, die er den ersten Aufruf zum Holocaust nennt. Eine grausame Geschichte, in der alle Bewohner einer Region abgeschlachtet werden. Mit so einem Gott wolle er nichts zu tun haben. Gespannte Stille im Auditorium.
Der stellvertretende Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Rikola-Gunnar Lüttgenau, der zusammen mit Ivanji im Podium sitzt, dreht die Frage um: »Wo war Gott bei den Christen in Weimar?« Und Ivan Ivanji ergänzt: Das sei auch nicht eine Frage der Geschichte, sondern der Gegenwart. Wo stehen wir jetzt? Und wo sollten wir stehen? »Jedes Kind, das heute im Mittelmeer ertrinkt, stirbt nicht besser als ein Kind, das in den Gaskammern Auschwitz’ umgekommen ist.«
Es ist eine der Szenen, bei denen man eine Stecknadel fallen hören könnte.
1945 wird Ivan Ivanji aus einem Lager nahe Magdeburg befreit bzw. befreit sich selbst. Kehrt in monatelanger Odyssee zurück nach Belgrad, studiert Architektur und Germanistik, wird Theaterintendant, schreibt Bücher auf Serbisch und Deutsch und wird unter anderem Übersetzer des jugoslawischen Staats­präsidenten Tito, später serbischer Kulturattaché in Bonn. Ein Mittler zwischen dem Balkan und Deutschland. Ein Handelsreisender der Verständigung. Gebildet, neugierig, sehr fein beobachtend, messerscharf im Urteil, immer respektvoll.
In welcher Liga er spielt, wird unter anderem deutlich, wenn er von den Kontakten zu Heinrich Böll und Günter Grass erzählt, deren Bücher er ins Serbische übersetzt hat. »Wissen Sie, warum mein Sohn so gut Deutsch spricht? Weil Grass einmal sein Babysitter war, als meine Frau zum Theater musste und ich noch nicht zu Hause war.«
Die Bibel sei Weltliteratur, sagt er in Weimar. Er habe sie studiert. Wie auch den Koran. Während die Bibel für ihn eher Lyrik sei, dürfe man den Koran als Prosa lesen. Heiterkeit im Auditorium. Müsste er sich entscheiden, er wäre vermutlich Buddhist, sagt Ivanji.
Warum setzt sich ein 88-jähriger Mann mit Sohn in Belgrad in den Flieger, um zu einem Kirchentag nach Weimar zu kommen? Vermutlich würde er schmunzelnd antworten: »Weil ich eingeladen wurde.« Tatsache ist aber auch, dass er Weimar seine zweite Heimat nennt. Denn durch den behutsamen und wertschätzenden Kontakt der Gedenkstätte Buchenwald, allen voran des Direktors Volkhard Knigge, ist er sehr oft an den Ort seiner Qual zurückgekehrt. Er ist ein gern gesehener Zeuge, ein vitaler Erzähler. Ein Mahner für unbedingte Menschlichkeit.
So auch auf dem Kirchentag auf dem Weg in Weimar, wo er unter anderem bei den Tischgesellschaften am Eröffnungsabend in einer intensiven Runde mit rund 40 Menschen bei der Literarischen Gesellschaft Thüringens Rede und Antwort stand.
Einen Tag später sprach er mit dem Schriftsteller Feridun Zaimoglu und dem Theologen Fulbert Steffensky über das große »Aber« der Weltgeschichte: »…aber die Liebe«, ein musisch-poetischer Abend. Ein Heimspiel für den Mann, der mühelos Rilke zitieren kann, zeitgleich aber einen bitter-realistischen Blick auf eine Menschheit hat, die immer neue Wege findet, sich selbst zu zerstören.
Wenig Hoffnung hat er für seine Region, das frühere Jugoslawien, speziell seine Heimat Serbien. Die demografische Entwicklung sei eindeutig negativ, das Land blute aus. Die Arbeitslosigkeit liege bei rund einem Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung. Die politische Kaste sei in Machtspiele verstrickt und Demokratie bleibe auf der Strecke. Der mögliche Anschluss an die Europäische Union sei immerhin eine Chance.
Sehr kritisch sieht er die serbisch-orthodoxe Kirche, der der weit überwiegende Teil der Bevölkerung angehört. Sie sei leider wenig hilfreich. Glaube in Serbien sei direkt gekoppelt mit Nationalismus. Dennoch und gerade deswegen ist sein Plädoyer: einmischen, mitreden, sich nicht abfinden.
Befragt nach einer Hoffnung für uns hier in Deutschland, antwortet der Buchenwald-Überlebende Ivanji, er halte es mit Jesus. So wie der wolle er uns auch sagen: »Ich lebe und ihr sollt auch leben.«

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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