Zweieinhalb Minuten vor Zwölf
Früher war mehr Friedensbewegung – auch in der Atommacht USA ringt sie um
Relevanz. Die Zeit der großen Opposition gegen Kriege und nukleare Waffenarsenale scheint dort vorbei zu sein.
Von Konrad Ege
Millionen hatten in den 1980er- Jahren gegen Ronald Reagans Aufrüstung demons-
triert und wohl auch Millionen gegen George W. Bushs Irakkrieg. Nach der Nordkorea »Feuer und Wut«-Rede von Donald Trump ging kaum jemand auf die Straße. Doch Meckern über die »lahme« Friedensbewegung ist vielleicht nicht ganz angebracht. Lawrence Wittner ist emeritierter Geschichtsprofessor an der »State University of New York« in Albany im Bundesstaat New York. Er hat viel über die Geschichte von Friedens- und Anti-Kriegsbewegungen geschrieben.
Ja, die Friedensbewegung in den USA sei gegenwärtig auf einem Tiefpunkt, sagte Wittner, doch er befürworte einen realistischen Rückblick. Aktivisten hätten immer nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausgemacht und trotzdem einiges erreicht.
Denn manchmal lassen sich Konsequenzen von Protest nicht sofort absehen, wie folgende Anekdote zeige: Es war 1961. John F. Kennedy war Präsident, Lawrence Wittner Student in New York City – friedensbewegt, obwohl »Friedensbewegung« damals alles andere war als eine Massenbewegung. In Erinnerung an diese Zeit schrieb Wittner kürzlich: Nachdem die Sowjetunion angekündigt hatte, sie werde sich vom Moratorium für atmosphärische Atomwaffentests zurückziehen, sei er mit ein paar Dutzend Gleichgesinnten nach Washington gefahren, um gegen Tests zu protestieren (Randbemerkung: Um Regierungsmitarbeiter im Weißen Haus zu beeindrucken, habe er eigens einen Anzug getragen und ein Schild »Kennedy: Äffen Sie nicht die Russen nach!«).
Es war nur eine kleine Demonstration, aber als Wittner Mitte der 1990er-Jahre in der Kennedy-Bibliothek in Boston recherchierte, stieß er auf folgende Aussagen des damaligen stellvertretenden Direktors der US-Rüstungskontrollbehörde, Adrian Fisher. Kennedy habe auf die Moratoriumsaufkündigung der Sowjetunion nicht sofort mit einem amerikanischen Test reagiert, denn Bürger seien wohl skeptisch gewesen. »Wir hatten Leute, die vor dem Weißen Haus protestierten«, so Fisher; die Frage »Müssen wir das tun, nur weil die Russen es auch tun?« habe offenbar viele bewegt – erst Ende April begannen die USA mit atmosphärischen Tests. Doch im Herbst 1963 schlossen die Sowjetunion, die USA und Großbritannien einen Vertrag zum Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre.
In der Ära Trump konzentriere sich die beträchtliche Opposition nicht auf die Themen Krieg und Frieden, sondern auf soziale und gesellschaftliche Anliegen wie Rassismus, Diskriminierung und wirtschaftliche Gerechtigkeit, so Wittner.
Barry Ladendorf, Vietnamkriegsveteran und Präsident des Verbandes »Veteranen für Frieden«, sieht einen Generationsunterschied. Viele Friedensaktivisten seien Menschen, die sich an Vietnam und Reagan erinnerten. Und doch sehe er bei seiner Arbeit, dass Donald Trump viele Menschen aktiviere, sagte Ladendorf.
Neu und schwierig sei freilich die »Stimmung einer Verehrung des Militärs«, die sich in den USA breitgemacht habe. Ladendorf sprach von einem »falschen Patriotismus«. Das habe auch mit der Professionalisierung des Militärs zu tun. Die wenigsten Menschen hätten wirklich Kontakt zu Menschen in Uniform.
Erstmals seit Jahren wird in diesem Herbst allerdings im politischen Wa-
shington über Atomwaffen diskutiert. Es war Mitte November, bei einer Sitzung des außenpolitischen Ausschusses im Senat: Die Politiker befassten sich mit der Frage, wer in den USA über den Einsatz von Atomwaffen entscheidet, und ob dieser Prozess abgeändert werden sollte. Entscheider ist der Präsident. So ziemlich im Alleingang.
In diesem Zusammenhang warnte der demokratische Senator Chris Murphy: Er sei besorgt, dass Trump »instabil« und »schwankungsanfällig« sei, und den Einsatz von Atomwaffen befehlen könnte entgegen der wirklichen Sicherheitsinteressen der USA.
Nach Einschätzung des Wissenschaftlermagazins »Bulletin of the Atomic Scientists« (»Berichtsblatt der Atomwissenschaftler«) steht die symbolische Atomkriegsuhr, die »Weltuntergangsuhr« (»doomsday clock«), gegenwärtig auf zweieinhalb Minuten vor Mitternacht. So nah wie noch nie.
John Mecklin ist Chefredakteur des Bulletins. Die Zahl der Online-Leser sei im vergangenen Jahr um 60 Prozent gestiegen, erklärte Mecklin. Es bestehe »enormes Interesse« an Fragen zu Krieg und Frieden, »doch das allein schafft keine guten Bilder fürs Fernsehen«. Die Hälfte der Leser seien unter 34 Jahre alt.
Mecklin glaubt an die Möglichkeit zur Veränderung und erinnert an den bewegenden Spielfilm von 1983 »Der Tag danach« über die verheerenden Folgen eines fiktiven Atomkrieges auf die USA. Der habe zahllose Menschen wachgerüttelt. 100 Millionen US-Amerikaner sahen den Film, auch Ronald Reagan im Weißen Haus. Später wurde er im Fernsehen in der Sowjetunion gezeigt.
Autor:Adrienne Uebbing |
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