Der evangelische Robin Hood
Vor 200 Jahren wird FriedrichWilhelm Raiffeisen geboren, der Gründer der modernen Genossenschaft.
Von Paul-Josef Raue
Im Anfang war das Backhaus. Und ein junger Bürgermeister, der sich der Obrigkeit widersetzt und hungernden Kindern und ihren Eltern hilft. Das Backhaus in dem kleinen Westerwald-Ort Weyerbusch ist ein schlichter Fachwerkbau, eher eine Hütte, aber es wird zum Symbol für eine Bewegung: Die Genossenschaften.
Der junge Bürgermeister heißt Friedrich Wilhelm Raiffeisen, vor 200 Jahren im Westerwald geboren. Wie bei vielen gibt es auch bei ihm diese Tat, die wie ein Schlüssel zu seinem Leben passt: Er lässt das Backhaus bauen, besorgt Mehl und beendet eine Hungersnot, die wir uns heute kaum mehr vorstellen können.
Raiffeisen wirkt als Christ, seine Kraftquelle ist die Bibel, seine Mitstreiter wirbt er mit Hinweisen auf die Bergpredigt: Er ist als Gründer der modernen Genossenschaften einer der Großen in der Geschichte der evangelischen Kirche –
und wird vergessen. Warum? Raiffeisen durfte nicht einmal die Höhere Schule besuchen, hat sich nicht als Theologe profiliert, er hat die Welt aber radikal verändert durch seine Taten.
In den Zeiten der industriellen Revolution und eines zügellos wuchernden Kapitalismus gab es einige Wohltäter wie ihn. Raiffeisen aber belässt es nicht bei Almosen und kurzer Hilfe, er entwickelt aus der christlichen Idee der Nächstenliebe ein höchst praktisches System gegenseitiger Hilfe, er schreibt Statuten für die Solidarität, die ohne Gewalt und Umsturz auskommt. Man könnte diesen Mann einen friedlichen Revolutionär der Solidarität nennen.
Aus dem Backhaus wächst der »Weyerbuscher Brodverein«, danach entstehen Hilfsvereine in Flammersfeld, die Darlehnskasse in Heddesdorf, schließlich Vereinigungen, Zentralkassen, eben die Organisationen, die die Unesco vor kurzem zum Welterbe erklärte: In Genossenschaften verbünden sich heute über zwanzig Millionen Menschen in Deutschland – und fast eine Milliarde weltweit.
Wer ist dieser Friedrich Wilhelm Raiffeisen? Geboren wird er im selben Jahr wie Karl Marx, der heute ungleich prominenter ist – obwohl er als Verlierer in die Geschichte eingegangen ist. Er wächst unter einfachen Verhältnissen im Westerwald auf, kann nicht einmal die Höhere Schule besuchen, meldet sich deshalb schon mit 17 zum preußischen Militär, aber muss vorzeitig die Uniform ausziehen wegen eines Augenleidens.
Preußen behält den entlassenen Unteroffizier im Staatsdienst und gibt ihm ein Bürgermeister-Amt. Schon nach wenigen Monaten setzt Raiffeisen seine Karriere aufs Spiel, eben im Backhaus-Eklat, in dem schon seine Lebens-Strategie deutlich wird: Er beweist Zivilcourage, indem er sich widersetzt.
Das Mehl fürs Backhaus soll nach Weisung des Landrats nur der bekommen, der bezahlen kann. Nur: wie sollen die Armen zahlen, die nichts haben? Dem Rauswurf und dem Karriere-Ende wegen Verweigerung des Gehorsams entgeht er mit einer List: Er lässt die Wohlhabenden seines Dorfs eine Kommission gründen, die Mikro-Kredite für die Armen finanziert.
Diese List prägt fortan sein Wirken: Er flicht um sich ein Netz von meist vermögenden Gleichgesinnten und nutzt Lücken im System von Staat und Wirtschaft; wird eine Lücke geschlossen, schlüpft er durch die nächste. Er bekommt mächtige Gegner wie Schulze-Delitzsch, der in Sachsen auch Genossenschaften gründet, einflussreich als Abgeordneter im preußischen Reichstag sitzt und sich zum Konkurrenten erklärt; aber er hat ebenso einflussreiche Freunde wie den Fürsten zu Wied, der nebenan im Neuwieder Schloss auf den Rhein schaut und in Berlin Audienzen bei Kronprinz und Kaiser bekommt.
Er kämpft gegen die Wucherer, gegen Ausbeuter in den Fabriken und wettert: »Eine gewisse Sorte von Menschen vernichtet Existenz nach Existenz und bedroht das Bestehen der ganzen menschlichen Gesellschaft auf das Ernsteste.«
Demokratie führt er in die Wirtschaft ein, ohne das Wort in den Mund zu nehmen: Jeder in einer Genossenschaft spricht mit, entscheidet ohne Ansehen der Person und hat eine Stimme, unabhängig vom Wert seines Vermögens. Die Genossenschaft bildet heute immer noch die einzige bedeutende Unternehmensform, die Demokratie verwirklicht – auch mit allen Nachteilen, denn die Mehrheit trifft nicht immer die klügsten Entscheidungen.
Raiffeisen will mit seinem Darlehnskassen-Verein in Heddesdorf auch entlassenen Strafgefangenen helfen und Kindern in Notlagen, er will Bibliotheken gründen, um die Bildung auf dem Land zu heben – doch die Mitglieder bremsen ihn aus, Raiffeisen muss sich der Mehrheit beugen. Auch dem autoritären Staat sind die Genossenschaften ein Dorn im Auge: Ihm ist suspekt, wenn sich Menschen ohne seinen Segen zusammenschließen und demokratische Verfahren ausprobieren.
Raiffeisens Denken strahlt aus bis in unsere Gegenwart: Er entwirft einen alternativen Kapitalismus, der nicht aus einem gewaltsamen Umsturz ersteht, sondern auf Vertrauen und Hilfsbereitschaft gründet.
Den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln schlagen, das lehrt Raiffeisen: Statt grenzenloser Konkurrenz und Zerstörung, heute als Disruption gefeiert, statt Ellenbogen und Egoismus holt er das Robin-Hood-Prinzip wieder ins Leben der Gesellschaft: Einer für alle, alle für einen.
Raiffeisen will die Kluft zwischen Arm und Reich beseitigen: Genossenschaften sorgen dafür, dass Eigentum breit gestreut wird, Konkurrenten sich als Partner begegnen und regelmäßige, verbindliche Kontrolle eine Pleite fast unmöglich macht. Wahrscheinlich steht deshalb die Blütezeit der Genossenschaften noch vor uns – in der Solidarität der Bürger, in der globalen Gesellschaft des Teilens, der »sharing economy«.
Raiffeisen ist ein Kämpfer, der viel ertragen muss: Seine Frau stirbt früh nach der Geburt des siebten Kindes; drei seiner Kinder sterben in den ersten Monaten; er selber ist oft krank und wird vorzeitig in den Ruhestand geschickt mit einer schmalen Pension. Er kann nicht mehr lesen, muss alles diktieren: Seine älteste Tochter Amalie, die sich in seinen Assistenten verliebt, darf nicht heiraten, er braucht sie als seine Sekretärin.
Er kämpft gegen die Politiker, die ihm das Leben schwer machen: Genossenschaften dürfen nicht als eigenständige Unternehmen auftreten. Erst 1867, zwei Jahre nach Raiffeisens Pensionierung, erlässt der Reichstag das erste Genossenschafts-Gesetz. Endlich ist es einfach, eine Genossenschaft zu gründen – und bleibt es bis heute. Nach einer Änderung von 2006, die das Genossenschafts-Recht auf die EU ausrichtete, müssen sich in Deutschland nur noch drei Leute für eine Gründung zusammenschließen und füreinander haften wollen.
Raiffeisen kennt liberales und demokratisches Denken, er spricht darüber mit seinem adligen Freund im Neuwieder Schloss, er fördert es auch – ohne überzeugt zu sein. Wie oft bei großen Persönlichkeiten entdeckt man bei ihm eine seltsame Unbekümmertheit und einfache Menschenliebe, gepaart mit einem bedingungslosen Gottvertrauen: Müssten nicht alle Menschen edel sein, freundlich und gut, hilfsbereit, gerecht und verantwortungsvoll?
Er leidet sein Leben lang unter dem Verlust des Urvertrauens unter den Menschen, dem er sich unter dem Druck der Wirklichkeit beugen muss: Er sieht die Gesellschaft am Abgrund. In seinen letzten Lebensjahren, da er fast erblindet ist, entwirft er noch einmal Statuten, aber diesmal für einen Laien-Orden.
Dieser Caritas-Orden, als Handelsgesellschaft zu gründen, wirkt wie aus der Zeit gefallen: Der evangelische Christ Raiffeisen, mit seiner Kirche unzufrieden, will die Mitglieder nicht nur auf ein einfaches, hochmoralisches Leben verpflichten, sondern auf Ehelosigkeit. Doch wie stets bei ihm sind auch ungewöhnlich moderne Züge zu entdecken: So steht der Orden offen für alle Konfessionen, ist ökumenisch und einem allgemeinen Christentum verpflichtet; in ihm wirken Frauen ebenso wie Männer, und am liebsten setzte er seine Tochter Amalie als Oberin ein.
Zur Gründung kommt es ebenso wenig wie zur Verleihung der Ehrendoktor-Würde, gedacht für die Feier zum 70. Geburtstag. Wenige Tage vorher stirbt er, den seine Wegbegleiter »Vater Raiffeisen« nennen.
Hintergrund: So gründet man eine Genossenschaft
Eine Initiative, um ein lang verwaistes Schauspielhaus zu beleben (wie in Erfurt)? Ein Mehrgenerationenhaus zu schaffen (wie in Dortmund)? Eine Solarfirma zu gründen (wie in Magdeburg)? Drei Leute mit Leidenschaft für ein Projekt reichen aus, um eine Genossenschaft zu gründen: Sie schauen in das Genossenschafts-Gesetz, suchen Mitglieder und erarbeiten Satzung und Geschäftsplan. Dabei hilft beispielsweise die Business-Plan-App des Bundeswirtschaftsministeriums. Eine Genossenschaft mit weniger als 21 Mitgliedern ist empfehlenswert: Erst dann braucht man einen Aufsichtsrat und zwei Personen im Vorstand, sonst reicht ein Vorstand.
Jede Genossenschaft muss zwingend einem Prüfungsverband angehören; ihn findet man unter »Prüfungsverband« bei Wikipedia. Er prüft schon die Gründung der Genossenschaft; das kostet mindestens 1 000 Euro. In der Gründungsversammlung wird der Vorstand gewählt und die Satzung verabschiedet. Die Genossenschaft muss abschließend als »eG« beim Amtsgericht, mit Notar, ins Genossenschaftsregister eingetragen werden. Paul-Josef Raue
Autor:Online-Redaktion |
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