Ein Bibelfilm, der keiner ist
Filmkritik: Der Schauspieler Ewan McGregor brilliert in »40 Tage in der Wüste« in einer Doppelrolle als Jesus und satanischer Versucher – eine Kino-Meditation über Väter und Söhne.
Von Markus Springer
Die letzten Bilder von »40 Tage in der Wüste« sind ebenso verstörend wie erhellend: Eineinhalb Stunden lang haben wir fasziniert das innere Ringen Yeshuas mit dem Teufel verfolgt. Die schauspielerische Leistung des Schotten Ewan McGregor in einer Doppelrolle ist so grandios, dass man diesem Jesus gerne seine europäisch blauen Augen nachsieht. Und wir haben Yeshuas Ende am Kreuz gesehen, nur einen Blick lang. 2 000 Jahre später machen genau dort in der Wüste Judäas, wo die Füße des Gottessohns die Erde berührten, Touristen Selfies vor malerischer Kulisse – als wäre nichts geschehen.
Der Film des kolumbianisch-amerikanischen Regisseurs Rodrigo García kreist um die Versuchung Jesu in der Wüste, die alle drei synoptischen Evangelien, Matthäus, Markus und Lukas, erwähnen. Sie folgt auf die Taufe Jesu im Jordan. »Und siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe«, heißt es da.
Der Film beginnt mit der Frage: »Vater, wo bist du?« Yeshua stellt sie, nachdem er in der Wüste gefastet und gebetet hat. Die Antwort bleibt aus.
Stattdessen scheint der Satan mehr von Yeshuas himmlischem Vater zu wissen als dieser selbst. So wie ihn Yeshuas böser Doppelgänger beschreibt, ist Gott ein eifernder, eitler Despot, dem mehr an seiner Macht liegt als an jenen, die er zu lieben vorgibt.
Auf dem Weg zurück nach Jerusalem – seinem weiteren Schicksal zu – stößt der Gottessohn auf eine dreiköpfige Familie, die in der Wüste lebt. Sie wird beherrscht von einem patriarchalen Vater (Ciaran Hinds), der aber letztlich das Leben fürchtet. Er, seine jüngere, aber todkranke und pflegebedürftige Frau (Ayelet Zurer) und ihr gemeinsamer Sohn (Tye Sheridan), der an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, sind in einem unauflösbaren Dreieckskonflikt aneinandergefesselt.
Ein weiterer der Bibelfilme, mit denen Hollywood gerade wieder ordentlich Kasse macht? »Noah« von Darren Aronofsky spülte seinen Produzenten 2014 mehr als 350 Millionen Dollar in die Kassen, Ridley Scotts »Exodus: Götter und Könige« über 250 Millionen.
Vorbei sind allerdings die Zeiten, als Regie-Großmeister Martin Scorsese wütende Proteste auslöste, als er »Die letzte Versuchung Christi« nach dem Nikos-Kazantzakis-Roman opulent ins Bild setzte (1988). Der Film zeigte, wie Jesus Sex hat, einen Sohn zeugt, irdischen Versuchungen erliegt – jedenfalls im Traum. Mel Gibson, Action-Star und ultrakonservativer katholischer Traditionalist, machte dann aus der »Passion Christi« 2004 ein Splattermovie, eine Orgie aus Blut und Gewalt. Beide, Scorsese und Gibson, verstehen sich als fromme Christen. Gegenüber solcherlei biblischem Bilderrauschen ist »40 Tage in der Wüste« ein stilles Kammerspiel, ein Low-Budget-Film, der sich ganz auf seine Schauspieler verlässt.
Gedreht wurde – auch aus Kostengründen – nicht im Heiligen Land, sondern im Anza-Borrego State Park in der Wüste südöstlich von Los Angeles. Kameramann Emmanuel Lubezki hat sich 2016 für das Wild-West-Überlebensdrama »The Revenant« mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle bereits den dritten Oscar in Folge abgeholt. Er fängt mit seinen schmerzhaft schönen Bildern eine Landschaft ein, die Verstand und Glaube auf die Probe stellt. Seine suggestive Kamera balanciert das meditativ-langsame Erzähltempo des Films aus.
Behutsam und ohne viele Worte verflicht der Film zwei Vater-Sohn-Beziehungen: diejenige, die Yeshua mit seinem himmlischen Vater verbindet, und diejenige in der Familie, auf die Yeshua in der Wüste getroffen ist. Als sie allein sind, bekennt der Junge gegenüber Yeshua, dass er gerne weg will, um Jerusalem, vielleicht das Meer, die Welt zu sehen. Doch der Vater hat es anders beschlossen. Der Hausbau in der Wüste ist seine Entscheidung, die das Leben aller anderen in der Familie bestimmt. Yeshua beschließt zu bleiben und zu helfen.
Regisseur Rodrigo García ist Sohn des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez (1927–2014, Hundert Jahre Einsamkeit, Die Liebe in den Zeiten der Cholera). Arbeitet sich hier ein Sohn an seinem künstlerischen Übervater ab?
Und Ewan McGregor sagt von sich: »Ich bin kein religiöser Mensch.« Aufgewachsen ist der Schauspieler, den 1996 seine radikale Verkörperung eines Heroin-Junkies in dem Drogen-Drama »Trainspotting« und dann seine Rolle als Obi-Wan Kenobi in der Star-Wars-Saga weltweit bekannt machten, in einer kirchenfernen Familie in Schottland. Allerdings durchaus im protestantischen Milieu. Die Schultage fingen mit einem Morgengebet an. Seit 1995 ist McGregor mit Eve Mavrakis verheiratet, einer französischen Jüdin mit griechischen Wurzeln. Ihre vier Töchter – zwei leibliche und zwei adoptierte – erzieht das Paar in der jüdischen Tradition.
Welche Folgen hat die ödipale Katastrophe, auf die die Familie in Yeshuas Beisein zusteuert, für den weiteren Weg des Gottessohns? Der Vater hat beschlossen, die Zukunft seiner Familie zu sichern, indem er in den Felsklippen der Wüste einen wertvollen roten Stein zu bergen versucht, der nur durch eine waghalsige Kletterei am Seil zu erreichen ist. Zunächst will er seinen Sohn zwingen, die lebensgefährliche Aktion auf sich zu nehmen. Weil dieser sich weigert, klettert der Vater selbst. Als er stürzt, können ihn sein Sohn und Yeshua, die ihn am Seil sichern, nicht halten. Mit zerschmettertem Leib stirbt der Vater auf dem Felsen. Doch sein Tod löst letztlich den Konflikt der Familie: Die Mutter lässt den Sohn ziehen und bleibt in der Wüste, um zu sterben. Die Heilung durch Jesus verweigert sie.
Hätte Jesus den Vater halten und retten können, wie es der Satan behauptet? Musste der Vater-Herrscher erst sterben, damit der Sohn leben konnte? »Lügner!«, herrscht Yeshua den Satan an. Der antwortet spöttisch mit einem abgründigen Paradox: »Ich bin ein Lügner – das ist die Wahrheit.«
»40 Tage in der Wüste« ist auf inspirierende Weise kein »Bibelfilm«, sondern eine Meditation über Väter und Söhne, über einen Jesus, der ganz wie wir, ganz menschlich ist, ein Film über das, was Menschen einander voneinander erzählen, Söhne ihren Vätern und umgekehrt, aber nicht nur. Und statt Selfies vor der Wüsten-Kulisse zu machen, ist es offenkundig lohnender, sich in die Wüste zu begeben und Gott zu suchen – selbst wenn man womöglich nur den eigenen Dämonen begegnet. Rodrigo García und Ewan McGregor haben diesen Versuch unternommen.
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