Ein exemplarisches deutsches Schicksal des 20. Jahrhunderts
Eine Rezension von Jürgen Israel
Christa Wolf schreibt 1952 an die Redaktion des »Neuen Deutschland«, der wichtigsten Zeitung der SED, und bietet ihre Mitarbeit für den Literaturbereich an. Es geht ihr um die »Durchsetzung des sozialistischen Realismus«. Sie wolle die Schriftsteller »bei der intensiven Beschäftigung mit der marxistischen Literaturtheorie« anleiten. Aber schon 1957 fragt sie in einem Brief an Lotte und Louis Fürnberg, ob die »ethische Grundidee, die man doch zu gerne hinter allem sehen möchte, in unserer Zeit eine völlige Utopie« sei. Und 1971 kommt ihr beim Wiederlesen ihres ersten Romans »Der geteilte Himmel« an manchen Stellen »das große Heulen über die unschuldsvolle Gläubigkeit, die mir vor zehn Jahren noch zur Verfügung stand«. Immer weiter entfernt sie sich von der Parteidoktrin, bis sie schließlich nur noch in »Kirchen und Gemeinden« lesen kann. Andere Auftrittsmöglichkeiten sind ihr in der DDR verschlossen. Einen scharfen, nicht wieder zu glättenden Bruch stellt 1976 die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR dar, gegen die Christa Wolf gemeinsam mit anderen Schriftstellern protestiert. Trotz heftigen Drängens zieht sie ihre Unterschrift unter die Protesterklärung nicht zurück. Dass viele Kollegen und Freunde in den Westen gehen, verstärkt einerseits das Gefühl, allein auf verlorenem Posten zu stehen, zu vereinsamen, und daraus folgend eine ungeheuere Verantwortung zu tragen, »zur Institution« zu versteinern. Sie setzt sich für junge Künstler ein, ermutigt sie, und versucht ihren Einfluss geltend zu machen, um Kritiker des Systems aus der Haft zu befreien, um jungen Dichtern Veröffentlichungen zu ermöglichen. Sie wendet sich sogar an Erich Honecker, um die Freilassung inhaftierter Oppositioneller zu
erwirken.
1984 schreibt sie an Raissa, die Frau des sowjetischen Dissidenten Kopelew: »Wenn es mir nicht gelingt, mich innerhalb der DDR innerlich vollkommen unabhängig zu machen von der herrschenden Ideologie, muss ich weggehen.« Das Bestreben, gegenüber sich selbst und ihren Lesern ehrlich zu bleiben, zieht sich durch die knapp 500 Briefe Wolfs, die gut kommentiert in einem Auswahlband erschienen sind. Bewegt ist ein Wandlungsprozess mitzuerleben, der die Schriftstellerin zu immer tieferen Einsichten sowohl des gesellschaftlichen Lebens als auch der eigenen Person führt. Mit dem Ende der DDR der Absturz: In Ost und West wird ihr zu große Staatsnähe vorgeworfen. Auch mit den blinden Flecken der Autorin, zum Beispiel über ihre Privilegien, die sie bis zuletzt in der DDR genoss, zeigen die Briefe ein exemplarisches deutsches Schicksal des 20. Jahrhunderts.
Wolf, Christa: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952–2011. Suhrkamp Verlag, 1040 S. ISBN 978-3-518-42573-2, 38 Euro
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