Gemeinde vor Ort nach Luther
Die aktuellen Reformbestrebungen der Kirche drängen weg von einer Gewichtung der Kirchengemeinden vor Ort. Im Sinne des Reformators?
Von Werner Thiede
Wie gestaltet sich evangelische Kirche künftig? Die aktuellen Reformbestrebungen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) haben meist eine auffällige Tendenz: Sie drängen weg von der gewohnten Gewichtung der Kirchengemeinden vor Ort.
Schon vor über einem halben Jahrhundert hat der Lutheraner Hugo Schnell an den biblisch begründeten Sachverhalt erinnert: »Die Kirche darf in keinem Augenblick vergessen, dass sie sich aus den Gemeinden aufbaut, dass sie in ihnen und aus ihnen lebt.« Dieses Votum entspricht im Wesentlichen der Sicht Martin Luthers.
Der Reformator hatte »Kirche« definiert als die »geistliche Versammlung der Seelen in einem Glauben«, also als das Volk der Gläubigen, als Versammlung jener Menschen, die das Evangelium hören und Christus folgen wollen. Dabei hat Luther immer wieder unterstrichen, dass Christus selbst das Haupt der Kirche sei. Den Leib der Kirche bildet für ihn konkret die christliche Versammlung, der »Haufen« im Sinne des Beisammenseins und Zusammengehörens. Es ist Gottes Liebe, die uns »in seine heilige Gemeinde führt und in den Schoß der Kirche legt, durch welche er uns predigt und zu Christus bringt.«
Kritisch stand Luther dem amtskirchlich ausgeprägten Selbstverständnis seiner römisch-katholischen Mutterkirche gegenüber. Sie definiert sich bis heute vor allem vom Kultus her und insofern im Ganzen als Organisation, die als Leib Christi, ja in ihrer Sichtbarkeit als heiliger Teil Christi selbst verstanden werden will. Für Luther hingegen ist Christus als Haupt der Kirche auch Haupt jeder Einzelgemeinde, ja durch den Heiligen Geist mit jedem Glaubenden in mystischer Liebesverbindung zu einem »Kuchen« zusammengebacken – wobei derselbe Geist wiederum den Getauften in den Leib Christi als Ganzen integriert.
Selbstverständlich kannte der Reformator auch die überregionale Ebene von Kirche. Doch er wusste um die notwendige Dimension des Konkreten, des Überschaubaren für die Vollzüge von praktischer Liebe in der Gemeinschaft vor Ort. In dieser Hinsicht rang er lebenslang mit zweierlei Konzepten von Gemeinde. Das eine, eher ideale war das einer »Bekenntnisgemeinde«; das andere, mehr an den realen Verhältnissen orientierte war das volkskirchliche Modell.
Zur »Bekenntnisgemeinde« gehören nach Ansicht des Reformators Menschen, die ernsthaft Christen sein wollen. Diese Art Kerngemeinde sollte sich über den wöchentlichen Sonntagsgottesdienst hinaus in Häusern zu Gebet, Bibellektüre, Taufe und Abendmahl versammeln. Diakonische Liebestätigkeit wäre in diesem Zusammenhang vor Ort zu realisieren. Treffen könnte sich diese Sonder- oder Kerngemeinde in Privathäusern oder einem kirchlichen Haus unter Leitung des Pfarrers.
Gleichwohl ist es nach Luther nicht möglich, ganze volkskirchliche Gemeinden als lebendige Gemeinden darzustellen. Er weiß um das Risiko, dass Christen in den skizzierten »Sondergemeinden« eine ambivalente Wirkung zu entfalten drohen: Sie könnten der Botschaft von der geschenkten Rechtfertigung der Gottlosen entgegenstehen. Deshalb sah er von der Entwicklung besonderer Gemeinden oder Gemeindezirkel ab, auch um der Gefahr des Sektierertums zu wehren.
Mit Blick auf Jesu Warnung vor falschen Propheten in Schafskleidern mahnt der Reformator, zwischen rechter und falscher Kirche zu unterscheiden – wobei er solche Unterscheidung der Geister durchaus auch für innerhalb ein und derselben Kirche angebracht hält.
Sollte das nicht auch heute gelten – im Zeitalter neuer Kirchenreformen? Wo entwickeln sich Verbesserungen im Sinne Luthers, und wo laufen die Dinge in eine Richtung, die von der Betonung des Miteinanders in der Gemeinde wegführen? Gisela Kittel und ihre Mitautoren riefen 2016 in dem Buch »Kirche der Reformation? Erfahrungen mit dem Reformprozess und die Notwendigkeit der Umkehr« in Erinnerung: »Nach etwa zwanzig Jahren Strukturumbau der Evangelischen Kirche zeigen sich die angerichteten Schäden unübersehbar. Sie sind vor allem in jenen Landeskirchen und Kirchenkreisen zu spüren, die im sogenannten ›Reformprozess‹ kühn voranschritten.« Eine bedenkliche Verschiebung im evangelischen Kirchenverständnis habe sich ereignet. Weil die christliche Kirche weithin nicht mehr als die Versammlung der Glaubenden gesehen werde, die auf das Wort ihres Herrn hört, sondern eher als soziale Organisation, sei die Selbsterhaltung des Apparates an die erste Stelle der Vorsorge gerückt: »So schreitet die Institution ›Kirche‹ über engagierte und bisher ihren Gemeinden treu verbundene Gemeindeglieder hinweg.«
Namentlich Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, kritisiert die neueren Entwicklungen, die quer durch Deutschland das Schwergewicht der Ressourcen auf die mittleren Kirchenebenen legen und damit riskieren, dass den Gemeinden selbst immer weniger Bedeutung zukommt. Die neueste
Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD habe erkennbar die Bedeutung der Kirchengemeinden wiederentdeckt: »So fühlen sich 45 Prozent der Kirchenmitglieder ihrer Ortsgemeinde sehr und ziemlich verbunden und ebenso etwa 44 Prozent der evangelischen Kirche insgesamt.« Damit erweise sich die Kirchengemeinde nach wie vor als »die mit Abstand wichtigste Drehscheibe von Kirchenmitgliedschaft. Die seit vielen Jahrzehnten gepflegte Vorstellung von der Existenz einer großen Gruppe von Evangelischen, die sich der evangelischen Kirche als solcher verbunden fühlen, aber zu den Kirchengemeinden aufgrund ihrer randständiger Existenz Abstand halten würden, ist mit diesen Zahlen widerlegt.« Durch die Präsenz der Kirche als Ortsgemeinde gewinne die evangelische Kirche einen Großteil ihrer Sichtbarkeit in der Fläche.
Es gilt also neu auf die der Kirche stärker Verbundenen zu achten: Sie zeigen in allen religiösen und kirchlichen Dimensionen höhere Werte auf. Sie erweisen sich laut Wegner sogar als die insgesamt gegenüber Neuerungen in der Kirche eher Aufgeschlossenen. Eine besonders große Bedeutung hätten Kirchengemeinden zudem hinsichtlich der Gewinnung und Aktivierung von Ehrenamtlichen; auf deren Kosten gehe es, sobald man Kirchengemeinden fusioniere. Es gibt also gute Argumente zu Gunsten einer Kirchenreform in genau anderer Richtung, als das derzeit oft der Fall ist. Eine konsequente Neugewichtung von Gemeinden vor Ort ist angesagt – ganz im Sinne der Reformatoren.
Buchtipp: Thiede, Werner: Evangelische Kirche – Schiff ohne Kompass? WBG Verlag, 280 S., ISBN 978-3-534-26893-1, 29,95 Euro
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Autor:Adrienne Uebbing |
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