Fastenaktion der Kirchenzeitung
Sie will, er muss
Mit dem Publizisten Christian Nürnberger setzen wir unsere Reihe fort. In jeder Ausgabe während der Passionszeit berichtet eine prominente Persönlichkeit, ob sie fastet oder nicht und was ihr die Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern bedeutet.
Von Christian Nürnberger
Im Kloster bei kärglicher Kost »zu sich selbst finden«? Daheim dem Bier, Wein und Braten entsagen, um dem lieben Gott irgendwie näherzukommen? Ja, weiß die Menschheit denn nicht, dass Gottesnähe auch zu verspüren ist, wenn man sich dem nächsten Wirtshaus oder Biergarten nähert? Mich jedenfalls versetzen solch heilige Orte sofort in meditative Stimmung, aus der heraus ich dann nur noch eine frische Maß Bier und ein paar Bratwürstl mit Kraut kommen lassen muss, und schon bin ich mit der Schöpfung einverstanden, lobe den Herrn und schmecke die lutherische Freiheit eines Christenmenschen.
Selbstkasteiungen hingegen führen mich in die größte Gottesferne, in der ich frage, warum der liebe Gott ungerecht ist bis hinein in die kleinsten Verästelungen des Menschseins. Man denke nur an die ungleiche Futterverwertung von uns armen Sündern – ein Problem, das seit Anbeginn meine Ehe überschattet, denn meine Frau isst, was sie will. Ich auch, und darüber regt sie sich dann so auf, dass sie gleich wieder abnimmt, während mir ein weiterer Fettring wächst. Sie kann in Gesellschaft drei Stück Kuchen essen, und hat am nächsten Tag ein Kilo weniger, weil die Gespräche sie so angestrengt haben, während ich vom bloßen Ansehen des Kuchens zunehme.
Was denkt sich der liebe Gott dabei? Warum lässt er zu, dass meine Frau mich verantwortlich macht für meinen Bauch, an dem doch er schuld ist? Wieso gibt es dazu keinen einzigen Aufsatz eines Theodizeeproblem-Theologen? Und was sagt eigentlich Thomas von Aquin dazu, von dem es heißt, wegen seiner Körperfülle hätte sein Schreibtisch halbkreisförmig ausgesägt werden müssen? Darüber müsste mal gepredigt werden in den Kirchen, statt immer nur übers Maßhalten.
Trotzdem habe ich – aber ich kann das erklären – seit Anfang Januar rund sechs Kilo abgenommen. Nicht aus spirituellen Gründen, nein, der Hirschhausen ist schuld. Und meine Frau. Die nötigte mich wieder, wie an jedem Jahresbeginn, diese unsäglich langweiligen, absolut nutzlosen Abnehm- und Diät-Tipps zu lesen, obwohl doch längst erwiesen ist, dass man nur die Wahl hat zwischen lebenslangem Hungern und lebenslangem Dicksein. Weshalb ich es seit je mit Curd Jürgens halte, der einmal gesagt haben soll, es komme nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben – denn zu was kann ein exzess-freies, freudlos sich hinziehendes Fit-for-Fun-Leben schon führen? Am Ende stirbt auch der Dünne, nur halt ein wenig später, fitter und mit dem Gefühl, einiges versäumt zu haben. Fit statt lebenssatt zu sterben, überlasse ich gern den Wellness-Aposteln.
Dank dieser gesunden Einstellung zum guten Leben habe ich es im Lauf der Jahre auf ein Kampfgewicht von 96 Kilo gebracht – bei einer Körpergröße von 1,76 m. Nein, das ist nicht zu schwer, sage ich meiner Frau, ich bin nur zu kurz, und dafür kann ich nichts, weil der liebe Gott … – siehe oben.
Dann aber hat sie mich überlistet. Sie gibt ja nicht auf, scheut nicht einmal davor zurück, mir Artikel aus der Bildzeitung(!) hinzulegen. Und eines Tages lag da was aus dieser Zeitung vor meiner Nase, geschrieben vom Hirschhausen. Den wird er lesen, dachte meine Frau. Und hatte Recht.
Hirschhausen berichtete von seiner Gewichtsabnahme. Der also jetzt auch. Ist denn gar keiner mehr gegen die Seuche des Schlankheitswahns gefeit? Hirschhausen verlor nun zwar stark in meinem Ansehen, aber andererseits ist er so ein raffinierter Hund, dass etwas mit mir geschah, während ich mürrisch über seine Einlassungen zur neuen Mode des »Intervall-Fastens« – neudeutsch-hip und schick: intermittent fasting – hinweglas. Das Geheimnis seines Erfolgs besteht ja darin, dass er sein kotzlangweiliges Medizinthema immerzu mit humorig-philosophischen Bemerkungen über das Leib-Seele-Problem würzt, und zwischen den Zeilen versteckte Botschaften unterbringt, die sogleich ihre Wühlarbeit im Unterbewusstsein beginnen. So auch bei mir.
Plötzlich fielen mir – während ich noch las – ein paar meiner älteren Freunde ein, die es ebenfalls ein Leben lang mit Curd Jürgens gehalten hatten. Konrad, ein paar Jahre älter als ich, müsste eigentlich eine neue Hüfte bekommen, kann aber nicht operiert werden, weil er zu fett ist, müsste erst 30 Kilo abnehmen, schafft immer nur fünfzehn, dann lässt er sich wieder gehen, sitzt nur noch bewegungslos herum, nimmt zu viel zu und zu wenig ab, und braucht jetzt den Rollstuhl. Günter, zehn Jahre älter als ich, starker Raucher, schon drei Herzinfarkte, lebt mit Herzschrittmachern und allerlei Stents freudlos vor sich hin. Harry, fünfzehn Jahre älter als ich, Schlaganfall, Rollator. Wäre das Alter für meine älteren Freunde leichter und erträglicher, wenn sie ihr Leben rechtzeitig in etwas gemäßigtere Bahnen gelenkt hätten?
Ich weiß es nicht. Aber plötzlich hatte dieser Hirschhausen mit seinem Zeug über die neue Fastenmode den Gedanken in mir erzeugt: Zwei statt drei Mahlzeiten pro Tag – das schafft doch jeder Depp, und man spart noch Zeit dabei. Könnte man mal probieren.
Und: Ein kurzes, aber intensives Curd-Jürgens-Leben mag ja ganz schön sein, aber was kommt danach? Dann trete ich kräftig und wohlgenährt durch die Himmelspforte, und sie werden sagen: Der soll dem Petrus beim Donnern helfen. Träte ich jedoch viele Jahre später schwach und abgemagert vor sie hin, würden sie sagen, der soll den Frauen ein wenig zur Hand gehen. Das motivierte. Einerseits.
Andererseits kenne ich die Hauptsätze der Thermodynamik, die sich auf den Nenner bringen lassen: Wenn du mehr Kalorien aufnimmst als du verbrauchst, nimmst du zu, egal mit welcher »Diät«. Weiß der Hirschhausen natürlich auch. Warum meint er dann trotzdem, die Gesetze der Physik aushebeln zu können? Nun ja, er hat abgenommen. Das Argument schlägt die besten Theorien.
Also begann ich morgens um zehn mit dem Frühstück. Abendessen um 18 Uhr. In den darauffolgenden 16 Stunden bis zur nächsten Mahlzeit, so die Theorie, soll es geschehen. Während dieser Zeit nimmt man angeblich ab, auch dann, wenn man beim Frühstück und Abendessen so richtig zugeschlagen hat.
Und tatsächlich: Das Wunder geschah. Die Physik dieses Glibbers aus Herz, Leber, Nieren, Bauchspeicheldrüse, Insulin- und Hormoncocktail-Shaker ist offenbar noch mysteriöser als die des sauberen Dieselmotors. Nein, sagt der Hirschhausen, es sei ganz einfach: In den sechzehn Stunden Ebbe leeren sich die Kohlehydratspeicher, und dann muss der Körper ans Fett.
Meine verlorenen sechs Kilo sind allerdings Stand von letzter Woche. Seitdem stagniert die Sache. Der Hirschhausen schuldet mir jetzt eine Erklärung. Und wehe, er hat keine.
Oder ich beweise halt meiner Frau meine Liebe. Seit Aschermittwoch lässt sie nämlich den Wein weg, wie jedes Jahr. Ich – ein vor Gott gerechtfertigter Lutheraner – habe dafür noch nie einen Grund gesehen. Was es für sie doppelt schwer macht, dem Wein zu entsagen. Unsolidarisch sei das, sagt sie. Gut, werde ich halt mal solidarisch sein.
Und wenn trotzdem weiter alles stagniert? Dann können sie sich auf was gefasst machen, der Hirschhausen und meine Frau.
Buchtipp
Gerster, Petra, Nürnberger, Christian: Die Meinungsmaschine. Wie Informationen gemacht werden – und wem wir noch glauben können, Random House, 384 S., ISBN 978-3-453-28047-2, 19,99 Euro
Bezug über den Buchhandel oder den Bestellservice Ihrer Kirchenzeitung: Telefon (0 36 43) 24 61 61
Autor:Online-Redaktion |
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