Annemarie STEIGER geb. Neubauer
Wie unsere Mutter ihren Lebenslauf aufgeschrieben hat
Geboren wurde ich am 28.12.1907 in Magdeburg, wenige Jahre vor Beginn des 1. Weltkrieges. Noch vor diesem kam unser Umzug nach Könnern/S, wo mein Vater einen Gemischtwaren-Laden hatte. In Könnern wurde ich eingeschult. Mit acht Jahren quälte ich meine Mutter um Klavierstunden, obwohl wir selbst kein Klavier besaßen. So übte ich zwei Jahre lang bei Bekannten meiner Eltern. Als Vater aus dem Krieg heimkehrte, kauften die Eltern ein gebrauchtes Klavier, das ich bis 1930 spielte. In der Schule begleitete ich den Schulchor bei Volkstänzen und kleineren Auftritten (Haydn, Kindersinfonie). Mit 14 Jahren trat ich dem "Gemischten Chor von 1889" bei, dem ich bis zu meiner Verheiratung treu blieb. Mit ihm sang ich in großen Aufführungen mit dem Stadt-Theater-Orchester Halle und Solisten: "Paradies und Peri", das "Mozart-Requiem", den "Messias", die "Schöpfung", die "Jahreszeiten", die Matthäus-Passion" u.a.m. Mit 17 Jahren begann ich Orgel-Unterricht, der mir Freude machte, und ich durfte bald im Gottesdienst spielen. Als mein Lehrer, der Organist Gerhard Kaule, an die Petrus-Kirche nach Halle/S ging, nahm ich weiter bei ihm Unterricht und sang in seinem Chor. Dann besuchte ich in Halle das Konservatorium, machte meine Prüfungen und unterrichtete in Könnern
bis 1937 Klavier. Dort lernte ich den Hilfsprediger Herbert Steiger kennen und lieben. Ich folgte ihm nach Gebesee/Erfurt, wo er seine 1. Stelle antrat. Am 04.07.1937 wurden wir getraut. Die Orgel dort hatte schon einen elektrischen Antrieb, und ich konnte ohne Bälgetreter üben. Das hörten aber die beiden "Platzhirsche", Rektor Naewy, Chorleiter, und Konrektor Hauptmeier, Organist, nicht so gerne. Sie achteten eifersüchtig auf ihre angestammten Privilegien, und ich durfte zunächst auch nicht im Chor mitsingen. Das war schwer für mich.
Am 30. Geburtstag meines Mannes, dem 08.04.1938, wurde unser erster Sohn in Erfurt geboren: Franz Max Friedemann. Am 01. September 1939 begann der 2. Weltkrieg mit dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Polen, zu der meine Mann alsbald eingezogen wurde. Ich hatte neben meiner Arbeit als Mutter und Hausfrau viel Arbeit mit der Organisation des Pfarramtes (Kirchenbücher, Arier-Nachweise, Gottesdiensten und Kasualien. 1940 am 07.04. wurden die Zwillinge Martin und Heinz geboren, von denen nur Martin am Leben blieb. 1941 wurde aufgerufen zu Orgelkursen in Erfurt mit dem Abschluss als C-Kantor. Die Fortbildung war immer samstags von 14-19 Uhr. Ich fand dazu ein liebes Gemeindeglied, das in meiner Abwesenheit die Kinder betreute. Unsere Lehrer waren: KMD Seydlitz, Studienrat Walter und Pfarrer Klapproth. Das war eine
beglückende Zeit für mich. Im Januar machten wir unsere Prüfungen, und im Mai wurde unsere Tochter Maria geboren. Man gab uns zum Abschied mit auf den Weg: "Gründen Sie Kinderchöre!" Das tat ich denn auch und hatte in all den Jahren viel Freude daran. Als dann im März 1945 keine Nachrichten mehr von meinem Mann kamen, und ich nicht wusste, ob er überhaupt noch am Leben war, wurde ich vom Ev. Konsistorium Erfurt auf halbes Gehalt gesetzt. Das Pfarrhaus wurde mit Flüchtlingen belegt. Zeitweise waren waren wir 32 Personen im Haus, darunter 15 Kinder.
Da die letzten SS-Leute gegen die US-Army Widerstand leisteten, und Gebesee "zur Festung" erklärt wurde,
geriet unser kleines Landstädtchen am 09. und 10. April unter Beschuss. Turm und Schiff der Kirche wurden getroffen, dazu Teile der Scheunen und des Pfarrhauses, und es gab viele Tote. Ich saß mit meinen Kindern
und allen Hausbewohnern im Keller des Pfarrhauses und bangte um unser Leben... Bei der Trauerfeier für die Toten hat unser Chor, das erste Mal auf dem Friedhof gesungen, und wir haben diese Tradition lange Jahre bei-behalten. Am 1. Juli 1945 kam mein lieber Mann überraschend und beglückend aus Krieg und Gefangenschaft zurück. Ich hatte inzwischen angefangen, wieder Klavier-Unterricht zu geben, denn wir mussten ja leben. Eigentlich wollte mein Mann uns nur holen. Denn er hatte auf dem Heimweg im Harz eine Probepredigt gehalten und war gewählt worden. Doch so konnten wir unsere Gemeinde nicht verlassen! 1949 starb unser Organist Hauptmeier. Zuletzt waren wir gut miteinander ausgekommen. Noch auf dem Sterbebett hat er mich zu seiner Nachfolgerin bestimmt. Seitdem war ich Organistin in Gebesee bis zum 31.12.1977. Von 1957 an war ich auch Chorleiterin und Katechetin. Nachdem ich die Chorleitung übernommen hatte und auch wieder Männerstimmen dazu kamen, haben wir auch kleine Kirchenmusiken, gemacht, Chorsätze gesungen und Kantaten aufgeführt: Dietrich Buxtehude ""In dulci jubilo", "Wie soll ich dich empfangen" und "Jesu, meine Freude". Aber auch Solo-Kantaten von Lübeck, Bernhard, Simon und Bresgen. An Chortreffen haben wir regelmäßig teilgenommen. Zweimal, 1960 und 1969, waren wir auch die Ausrichter. Der Chor sang immer zu allen Feiertagen. Der Kinderchor sang von Mai bis Oktober jeden 1. Sonntag in der Kleinen Kirche sowie an den 2. Feiertagen, Kirchweih, Erntedankfest, Martini und Heiligabend. Mit dem Posaunenchor, von Sohn Martin und seinem Freund Wolfgang Hoffmann und früheren Bläsern neu gegründet, gab es immer eine gute Zusammenarbeit. Es gab Kinderfeste mit Märchenspielen. Es gab Weihnachtsbasare mit Aufführungen der Kinder und Kaffee-Trinken im Garten. Es gab jedes Jahr ein großes Krippenspiel unter Beteiligung vieler Kinder. Und das bis zu meinem Dienstende 1977. Ich habe meinen Dienst gern getan und hatte die Unterstützung meiner Familie, der Chöre und vieler, lieber Menschen. Ich danke meinem Gott von ganzem Herzen für mein Leben!
(Unsere Mutter starb nach OSH-Bruch, OP und erneutem Bruch am 6. Mai 1989, 19 Uhr, an einer Lungenentzündung im Katholischen Krankenhaus Erfurt. Sie hat die Wende nicht mehr erlebt. Sehr schade!)
Autor:Martin Steiger |
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