Sternstunden eines Pfarrerlebens
Alles fließt
Alles fließt.
Sie wird 90 in diesem Jahr. Ihre Tochter hat das Abendmahl bestellt, und wir feiern es miteinander.
Was sie kann, spricht sie mit, und sie kann viel. Schön ist das so. Die Jubilarin freut sich über den Besuch des Pfarrers. Sie redet und redet. Erzählt von früheren Jahren. Ein schönes Altengesicht. Die Prothese sitzt.
Aus Lemberg stammt sie, früher Landeshauptstadt der Donaumonarchie. Vordem Mittelpunkt des
ukrainischen Galizien, südöstlich von Breslau, fast auf gleicher Höhe mit Krakau, heute (wieder) in Polen.
Als sie Kind war, hatte Lemberg 500.000 Einwohner bei 5000 Evangelischen, eigene Kirche, zwei Pfarrer,
eigene Schule, viele, viele Feste. Ihre Augen leuchten im Glanz ferner Welten. Die Weltkriege mischen sich,
Vertreibung, Vertreibung, dazwischen Neubeginn mit allen Hoffnungen, Jahre in der DDR, nun also Schön-
dorf bei Weimar in Thüringen.
Es sprudelt aus ihr hervor, manchmal unterbrochen von ihrer Tochter, doch die ist ohne Chance. Ja, der
Vorgänger sei auch immer, und zum 90., da müsse ich natürlich kommen, bis, plötzlich innehaltend (Sie hört schwer, sieht nicht mehr viel und geht am Stock.), der Satz fällt: "Herr Pfarrer, sie sind ja noch so jung!"
Mir geht das runter wie Öl. Ich bin 55 und langsam in der Bereitung auf Lebensende. Beate, unsere Letzte,
geht im Bus an mir vorbei, "hay!" Zu Hause liebt sie mich innig. Für die Alte bin ich jung. Panta rei. Alles fließt.
Autor:Martin Steiger |
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