Christus am Kreuz
Von Alf Christophersen
Der oberbayerische Walchensee ist ein Kraftort, der Einzelne in seinen Bann zieht, ihnen elementare Naturerfahrung, Abgeschiedenheit, Klarheit und Ruhe verspricht. Hierher kamen Richard Wagner, Ludwig II. – und 1919 auch der Maler Lovis Corinth, der den Ersten Weltkrieg als Verlust gewohnter Ordnung und fortwährenden Desillusionierungsprozess wahrgenommen hatte. Sein spätes Werk besteht nun nicht nur aus Landschaften des selbstgewählten Exils und Selbstbildnissen, sondern vor allem auch aus Arbeiten, die ein Ringen mit der Passion Christi dokumentieren. Corinth erkennt in Leiden und Tod Jesu den Stellvertretungsakt, der das gefährdete eigene Leben und das des Menschen an sich aufnimmt.
Mit Blick auf Figurenbilder erörterte Corinth die Schwierigkeit des Künstlers, alt bekannte und vertraute Motive innovativ aufzugreifen. Er kam zu dem Ergebnis, dass es erforderlich sei, »das Neue in sich selbst« in der eigenen »Individualität« zu finden. Wenn »Christus am Kreuz« mit den Mitteln des Holzschnitts als Zentrum noch pulsierender, aber schwindender Energie gezeigt wird, fällt auf, dass das Kreuz selbst gar nicht zu sehen ist.
Etwas Entscheidendes fehlt, ist aber dennoch umso wirkmächtiger präsent und wird aus dem Gedächtnis des Beobachters rekonstruiert, der auch auf diese Weise am Kunstwerk partizipiert.
Lovis Corinth, Christus am Kreuz, 1919 aus: Biblische Szenen, 1919, Blatt 5, Holzschnitt
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