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Predigttext
Die Bibel tratscht nicht

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Dir sind deine Sünden vergeben.
Lukas 7, Vers 48

Wie? Hier geht’s doch nicht etwa um deine und meine Sünden? Eigentlich reden wir über Sünden ja ganz gern, am liebsten jedoch über die Sünden anderer. Wir tun das im Privaten, in der politischen Debatte, auch in unserer Kirche.

Denk dir mal: Eine Frau salbt Jesus die Füße; dabei ist sie eine Sünderin. Welcher Art ihre Sünde wohl sein mag? Liebe Freunde des Herrenwitzes, in dieser Szene kommt ihr nicht auf eure Kosten, obschon sich die Exegeten alle Mühe gegeben haben, die Sündhaftigkeit der Frau entsprechend zu deuten.

Auch Simon, dem Pharisäer, bei dem Jesus zu Gast ist, ist eher nach Zungenschnalzen zumute. Jesus macht das nicht mit: Zuerst wendet er die Aufmerksamkeit von der Frau weg auf ein vermeintlich ganz anderes Beispiel; dann spricht er Simon direkt an: Und du? Was hast du mir getan?

Erste Erkenntnis: Die Bibel tratscht nicht über andere. Sie spricht zu dir und zu mir. Die Bibel taugt nicht als Moralkeule in den Händen der Frommen. Sie fragt nach deinem und meinem Tun. Simon, ertappt bei seinen hämischen Gedanken, muss sich noch mehr bieten lassen: Mit ihm, dem ehrwürdigen Gelehrten, vergleicht Jesus diese weinende, am Boden knieende Frau. Jesus irritiert die gesellschaftlichen Rang- und Hackordnungen: Sünderinnen gelten ihm so viel wie Pharisäer, Frauen so viel wie Männer.

Zweite Erkenntnis: Kein Status und kein Habitus bewahren dich und mich davor, dass Jesus nach deinem und meinem Tun fragt. Jesus erklärt aber nicht nur die Frau als dem Pharisäer gleichrangig, er macht sie ihm sogar zum Vor-bild – sie, die niederkauert, Jesus mit ihrem Haar die Füße trocknet und küsst und mit kostbarem Öl massiert. Was für ein Wohlgefühl. Wie viel Liebe.

Dritte Erkenntnis: Vielleicht ist unser Glaube, die Nachfolge, in die uns Jesus ruft, nicht allein eine Verstandesangelegenheit, sondern auch und vor allem eine Gefühlssache. Aber nicht irgendeines Gefühls, sondern allein des Gefühls der Liebe.

"Kann denn Liebe Sünde sein?", sang einst Zarah Leander. Mit Blick auf die Frau, die ihn salbt, würde Jesus wohl antworten: Nein, ganz im Gegenteil. „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt.“ Und was würde Jesus mit Blick auf dich und mich sagen?

Oberkirchenrat Michael Lehmann, Erfurt | Foto: Foto: Paul-Philipp Braun
Autor:

Online-Redaktion

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