Die Uhren auf null gestellt
Diagnose Krebs: Ein junger Mann sitzt auf einem blauen Sofa. Mit seinem alten Leben hat er abgeschlossen. Sein Leben nach der Krankheit ist ein anderes als vorher.
Von Marie Neubauer
Quer durch seine obere Ohrmuschel steckt ein silbern glänzender Piercing-Stab. Felix Seifert, etwa eins achtzig groß, wirkt leicht nervös, er reibt sich die Hände. Dann beginnt er zu erzählen. Von seinen Hobbys, seiner Ausbildung und einer Erfahrung, die seine Einstellung zum Leben grundlegend veränderte.
Felix Seifert liebt Wanderungen durch die Natur. Ist ihm danach, joggt er auch mal zehn Kilometer. Er sucht und liebt die Momente der Besinnung, wenn er in der Natur ist. Die Umgebung seines Wahlwohnorts – ein kleines Dorf bei Gera – bietet dafür ausreichend Möglichkeiten. Er sucht den Ausgleich zum Ausbildungs- und Berufsalltag, will den Kopf freibekommen. Der 26-Jährige hat seine Ausbildung als Kaufmann für Büromanagement im CJD Berufsbildungswerk Gera abgeschlossen.
Wenn man es genauer betrachtet, hatte der aus Weißenfels Stammende ursprünglich ganz andere Pläne. Im August 2010 beginnt er eine Ausbildung zum Gebäudereiniger in einem Pflegeheim. Er plant eine Zusatzqualifikation, um später staatlich geprüfter Desinfektor zu werden. Dann könnte er zum Beispiel Hygienepläne für Einrichtungen wie Krankenhäuser, Pflege- oder Altenheime erstellen. Parallel zur Ausbildung treibt er viel Sport. Er begeistert sich für fast jede Ballsportart, ist immer in mindestens einem Verein Mitglied. Sein Leben gleicht ein bisschen einer Überholspur. Er nimmt das Leben, wie es kommt. Geht seinen eigenen Weg, macht das, was er will. Tief greifenden Lebensfragen musste er sich nicht stellen. Er führte ein ganz normales Leben. Doch am 21. Oktober 2011 endet abrupt sein gewohntes Leben. Felix Seifert erfühlt einen Knoten, wo keiner sein sollte. Er ist zu diesem Zeitpunkt gerade mal 20 Jahre alt. »Irgendetwas war anders. Ich habe mich irgendwie unwohl gefühlt«, sagt der blonde Schüler. Der Arzt bestätigt seine düstere Vorahnung: Krebs.
Für Felix Seifert beginnen nun schier endlose Tage im Krankenhaus. Die Chemotherapie mit ihren unschönen Nebenwirkungen gehört ab sofort zu seinem Alltag. »Es fühlt sich dauerhaft so an, als ob man am Vorabend getrunken hätte und einen krassen Kater hat. Einmal hatte ich einen heftigen Krampf im Nacken, wobei sich mein Hals stark nach links verdrehte. Dagegen konnte ich nichts machen.« Die Zeit der Behandlungen mit Chemotherapie machen ihm zu schaffen. »Man wird irgendwann irre und es gibt Momente, in denen man am Boden ist.« In genau diesen Augenblicken beginnt Felix Seifert zu beten. Er betet um das eigene Leben. Neben dem Glauben gibt ihm auch seine Familie Kraft – die Eltern, ältere Geschwister und Verwandte, allen voran der Onkel, der selbst zu diesem Zeitpunkt Krebs hat und ihm in vielen Gesprächen Mut macht.
Irgendwann ist es so weit. Nach drei Jahren Therapie ist die Krankheit endlich überstanden. Geblieben ist ein Taubheitsgefühl in einem Bein, eine sogenannte Polyneuropathie – ein Nachbeben der Chemo. Auch psychisch gibt es Nachwirkungen: Der eigentlich lebenslustige Schüler beschreibt sich nach der Krebserkrankung eher als schüchtern und in sich gekehrt. An das Zurückkommen in den alten Ausbildungsalltag ist erstmal nicht zu denken. Auch für seinen geliebten Ballsport fehlt ihm die Kraft. Nach mehreren Monaten schlägt der Rententräger dem jungen Mann einen Ausbildungsanbieter vor, bei dem Ergo- und Physiotherapie im Ausbildungsplan integriert sind. In Leipzig und Gera gäbe es derartige Angebote. Felix Seifert rappelt sich auf, fasst neuen Mut und entscheidet sich für einen Neuanfang. Er will weg aus der Heimatstadt Weißenfels, Neues kennenlernen und gleichzeitig hektische Großstadtatmosphäre meiden. Er entscheidet sich für Gera. Hier beginnt er im August 2014 den kaufmännischen Lehrberuf, begegnet Klassenkameraden, die seinen Lebensweg teilen und sammelt Kraft. Er taut auf, wird kommunikativer und fängt wieder an zu lächeln. Das Leben nach dem Krebs gleicht nicht mehr seiner Zeit vor der Diagnose. Er lässt es ruhiger angehen, liest gerne Bücher, zockt ab und zu an der Playstation und entdeckt das Kochen für sich. Mit seinem alten Leben hat er ein Stück weit abgeschlossen. Es scheint, als wären die Uhren nach der Krankheit auf null gestellt.
Heute, sechs Jahre nach der Diagnose, hat Felix Seifert seine Ausbildung abgeschlossen. Die vergangenen Jahre waren ein Auf und Ab für ihn – voller Verzweiflung, Hoffnung, Zukunftsängste und Glück. Er selbst nimmt nicht nur negative Erkenntnisse aus dieser Zeit mit. Vor dem Krebs war ihm vieles gleichgültig. Er war eigenbrötlerisch, distanziert, spricht selber von »egoistisch«. Heute sieht das ganz anders aus: Er hört anderen gern zu, ist hilfsbereit, kommunikativ und weiß die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen. Er achtet auf seine Gesundheit und kommt zu der Erkenntnis, dass er eigentlich mehr gewonnen als verloren hat.
Die Zeit im Berufsbildungswerk hat ihn auch geprägt. Im Religionsunterricht sprechen die Schüler über das Leben. Felix hat viel zu erzählen, auch über die Vergangenheit. Könnte er die Zeit zurückdrehen, wäre er ein Jahr eher zum Arzt gegangen. Das hätte vermutlich die zehrende Chemo überflüssig gemacht.
Unabhängig von all den positiven Veränderungen, die Felix Seifert an sich beobachtet hat, gibt er offen zu, dass ihm die Krankheit wertvolle Lebenszeit gestohlen hat. »Ich will Dinge nachholen, die ich während der Therapiezeit nicht machen konnte.« Doch an Trübsal blasen ist nicht zu denken, denn er will die Welt bereisen, unbedingt mal nach Japan, Unbekanntes ausprobieren und sein neu gewonnenes Leben in vollen Zügen genießen.
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