Wort zur Woche
Herausfordernde Zeiten: "Ich könnte es ja mal versuchen"
Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele.
Matthäus 20, Vers 28
Weil sie ihren Mann nach einem Schlaganfall nicht mehr allein versorgen kann, ist Mechthild mit ihm in eine Seniorenresidenz gezogen. Sie hat ihren Dienst bei der Telefonseelsorge nach vielen Jahren beendet. Die Kolleginnen haben ihr eine Cello-CD von Pau Casals geschenkt, eine Aufmerksamkeit, über die sie sich sehr gefreut hat. Ihr Cello ist mit umgezogen. Mechthild hat früher viel Musik gemacht. Mit ihren Geschwistern hat sie gesungen, später in Chören. Sie musiziert noch immer.
Mechthild hatte erfreut festgestellt, dass die Pfarrerin einmal im Monat zum Gottesdienst in ihr neues Zuhause kam. Einmal ist sie seit ihrem Einzug dabei gewesen, hat sich über die vertrauten Texte und Lieder gefreut. Dann kam Corona. Die Pfarrerin darf nicht mehr ins Haus, auch andere Besuche bleiben aus. Die Pflegekräfte bemühen sich um Abwechslung und gute Stimmung, aber es ist ruhig geworden. Sollte die Andacht am Freitag auch ausfallen?
„Ich habe gedacht, ich könnte es ja mal versuchen“, sagt Mechthild. Die Pfarrerin hat ihr einige Hinweise gegeben. Dann hat sie sich an die für sie neue Aufgabe gewagt. „Von Viren wollte ich nicht sprechen. Aber, dass keine Besucher mehr kommen dürfen, bewegt uns doch alle. Ich habe von den 40 Tagen Jesu in der Wüste erzählt – warum war er da eigentlich? – und vom Volk Israel auf seiner langen Wanderung. Verzicht und Versuchung gehören zu unserem Leben. Zu bestehen und Leiden zu ertragen, ist die Herausforderung. 40 Tage ohne Besuch, das ist nun unsere Passion.“
Ich bewundere Mechthild. Sie hat – wie so oft in ihrem Leben – eine Herausforderung angenommen. Und sie hat mit erstaunlicher Klarheit den Bogen von der Passionsgeschichte in ihre Gegenwart geschlagen. Viele Menschen leiden derzeit unter Einsamkeit und erzwungener Trennung. Möge Gott all denen, die sich in den Dienst für ihre Nächsten stellen, schützend und stärkend zur Seite stehen.
Albrecht Lindemann, Pfarrer in Zerbst
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