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Ein paar Tage Urlaub von der Armut

Die Aktion »Kindern Urlaub schenken« ermöglicht unbeschwerte Ferienerlebnisse. | Foto: animaflora – fotolia.com

Kinderarmut ist in Mitteldeutschland kein Skandal mehr. Damit abgefunden hat sich die Gesellschaft aber nicht, wie eine Aktion der Diakonie zeigt.

Von Katja Schmidtke

Sie haben den Bergzoo von Halle nie von innen gesehen, noch keine Ausstellung besucht und keinen Ausflug mit dem Zug gemacht. Sie erfinden Urlaubserlebnisse, um nach den großen Ferien in ihrer Klasse nicht zum Außenseiter zu werden – in Sachsen-Anhalt wächst jedes vierte Kind in Armut auf. In Thüringen und Sachsen jedes sechste.
Damit diese Mädchen und Jungen unbeschwerte Ferientage erleben können, hat die Diakonie Mitteldeutschland 2006 die Aktion »Kindern Urlaub schenken« ins Leben gerufen, seit 2010 beteiligt sich auch die Diakonie Sachsen. Nach dem Start der Agenda 2010 spürten die Beratungsstellen, dass Armut mit all ihren Begleiterscheinungen auch im reichen Deutschland ein Problem werde, erinnert sich Oberkirchenrat Eberhard Grüneberg, Vorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland. Zehn Jahre später stellt er fest: »Es hat sich nicht grundsätzlich etwas für Kinder in prekären Lebenslagen geändert. Die Situation hat sich stabilisiert und verschärft.« Davon zeugt auch die Bilanz von »Kindern Urlaub schenken«: Sammelte man 2006 noch 5 000 Euro Spenden für die Ferienfreizeiten ein, waren es im vergangenen Jahr 36-mal so viel, 180 000 Euro. Mit insgesamt rund 1,2 Millionen Euro konnte in den zurückliegenden zehn Jahren 25 000 Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren Urlaub geschenkt werden.
Es sind keine Fernreisen auf schöne Inseln und auch nicht bloß Ausflüge zum nächsten Baggersee, sondern besonders Bildungserlebnisse. Die sozialpädagogische Begleitung der meist von diakonischen Werken und Einrichtungen, von Kirchenkreisen und Gemeinden organisierten Ferienfreizeiten ist Fördervoraussetzung. »›Kindern Urlaub schenken‹ eröffnet Bildungszugänge und Chancen, die diese Kinder sonst nie hätten«, stellt Roland Merten fest. Der Professor, der an der Universität Jena den Lehrstuhl für Sozialpädagogik und außerschulische Bildung innehat, sitzt im Diakonie-Spendenbeirat und begleitet die Aktion wissenschaftlich.
Arme Kinder sind keine dummen Kinder, betont der Erziehungswissenschaftler, aber sie werden systematisch abgehängt. Dass Finanzmittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket antragspflichtig sind, bezeichnet Merten als Skandal. Weil die Hälfte des Budgets nicht abgerufen werde, käme dies faktisch einer Absenkung der Sozialgeld-Regelsätze für diese Kinder gleich. Es gebe einen Zusammenhang zwischen guten Ergebnissen in Bildungstests wie Pisa und einer geringen Armutsquote. Die Wahrscheinlichkeit, in Armut zu leben, sei umso höher, je geringer die schulische und berufliche Qualifikation sei. »Eigentlich müssten wir besonders Kinder aus benachteiligten Familien fördern, aber wir betreiben »business as usual«, alles geht seinen üblichen Gang. Wir produzieren sehenden Auges die nächste Generation von Sozialhilfeempfängern«, warnt Merten.
Was also kann die Diakonie-Aktion »Kindern Urlaub schenken« daran ändern? Ist sie bloß ein Tropfen auf den heißen Stein? »Nein, eher ein steter Tropfen«, sagt Diakonie-Fundraiser Andreas Hesse. »Ein kleiner Fluss«, fügt Oberkirchenrat Grüneberg an. Man mindere die Folgen der Armut, indem man schöne Erlebnisse schaffe, Bildungszugänge eröffne und damit die Kinder stärke und ermutige und ihnen zeige, Armut ist kein Naturgesetz, sie vererbt sich nicht zwangsläufig. Außerdem bleibe durch die Aktion das Thema im Gespräch, auch wenn der Fakt der Kinderarmut als solcher und Begriffe wie Prekariat längst keinen Aufschrei in Gesellschaft und Politik mehr auslösen.
Dass viele Menschen sich damit dennoch nicht abgefunden haben, zeigt die wachsende Spendenbereitschaft. »Es sind vor allem Privatpersonen, die spenden. Bemerkenswert ist, dass fast 30 Prozent aus anderen als den drei mitteldeutschen Ländern kommen«, sagt Andreas Hesse. Er geht davon aus, dass auch in diesem Jahr zwischen 3 500 und 3 700 Kinder aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zumindest für einige Tage Urlaub von der Armut machen können.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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