Mit Kunst die Bibel entdecken
Buchbesprechung: Reise durch das Alte Testament
Von Anke von Legat
Gleich das erste Bild ist ein Hingucker: Da sitzt König Saul in tiefen Schlaf versunken, den Kopf in die Hand gestützt. Hinter ihm steht David mit einem riesigen Dolch in der Hand – und schneidet einen Zipfel von Sauls rotem Gewand ab. Das mittelalterliche Glasgemälde aus dem Halberstädter Dom zeigt die Szene plastisch, detailreich und farbenfroh, fast wie in einem Comic. So wird gleich deutlich: Kunst ist auch etwas für Kinder. Und Kunstwerke sind gut geeignet, um Kindern biblische Geschichten nahezubringen.
Dieser doppelten Aufgabe hat sich die Autorin Suzanne Lier bereits zum zweiten Mal gewidmet. Nach ihrer Reise durch die Fünf Bücher Mose liegt jetzt der Band »Geschichten von Königen, Richtern und Propheten« vor. Es ist wieder ein durchweg empfehlenswertes Buch geworden.
Die Idee: Kinder und Erwachsene können sich das Buch gemeinsam anschauen und anhand der Kunstwerke biblische Geschichte und Geschichten entdecken. Dazu bietet die katholische Theologin und Kunsthistorikerin in ihrem wunderschön gestalteten Bildband einen beeindruckenden Überblick über die Kunstgeschichte. Sie beschränkt sich nicht auf Berühmtheiten wie Cranach, Rembrandt oder Chagall, sondern präsentiert auch unbekannte Maler – und ausdrücklich auch Malerinnen. Deutlich wird erneut, mit welcher Liebe und Akribie sich die christlichen und einige jüdische Künstler und Künstlerinnen der Bibel gewidmet haben. Blättert man durch Liers Buch, bekommt man den Eindruck, dass jede noch so abseitige Geschichte im Laufe der Kirchengeschichte einen Illustrator gefunden hat.
Neben jeder Abbildung findet sich eine kindgerechte Nacherzählung des jeweiligen Bibeltextes, angefangen bei Gottes Zusage an Josua (Josua 1) bis hin zum Volk im Exil, das an den Wasserflüssen Babylons sitzt und weint (Psalm 137). Damit umfasst der neue Band eine Zeitspanne von rund 850 Jahren, vom Beginn der Richterzeit um 1250 vor Christus bis zum Ende des Babylonischen Exils in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts vor Christus.
Schon allein die Sammelleistung von Bildern und Geschichten macht das Buch lesenswert. Aber Suzanne Lier bietet noch mehr: Es gibt reichlich theologische Hintergründe und kunsthistorische Querverweise. So zeigt die Autorin etwa, dass die Ankündigung einer Geburt durch einen Boten Gottes keineswegs ein Motiv des Neuen Testaments ist: Unter anderem die Mutter des Propheten Simson erfuhr auf diese Weise von ihrer bevorstehenden Schwangerschaft (Richter 13). Bei anderen Bildern macht Lier auf kunsthistorische Details wie etwa die Entwicklung der Perspektive oder Zitate anderer Maler aufmerksam.
Jedem biblischen Buch ist eine theologische Einführung vorangestellt. In zusätzlichen Exkursen bietet Lier kenntnisreiche Überblicke etwa über die Entwicklung des Gottesbildes oder über die Judenfeindschaft des Mittelalters, die sich auch in den Kunstwerken manifestiert. Besonderes Gewicht legt die Autorin auf Geschichten über Frauen: Hier hat sie nicht nur Illustrationen zu den bekannten Gestalten wie der Richterin Debora, der Prophetin Hanna oder der Batseba gefunden, sondern etwa auch zum Schicksal einer namenlosen Frau, deren Sohn Gott zur Strafe für die Sünden seines Vaters Jerobeam sterben lässt (1. Könige 14).
Immer wieder thematisiert sie dabei die Fragen, die sich nicht nur für Kinder aus den biblischen Deutungen ergeben. Wie kann Gott ein Kind für die Schuld seines Vaters sterben lassen? Liers Versuch einer Erklärung lautet: Die Geschichte ist so wahrscheinlich nicht passiert, aber sie hat einen wahren Kern – »unser Glaube an Gott gibt uns keine fertige Antwort auf das Leid in der Welt. Aber er hält unsere Fragen wach. Und er kann uns helfen, das Leid auszuhalten.«
Neben solchen ernsten Fragen gibt es auch Witziges zu entdecken: etwa die wild gewordenen Eselinnen, die zum Anlass für Sauls Begegnung mit dem Propheten Samuel werden (1. Samuel 9,1-14), oder den jungen König Rehabeam, der auf den Rat der geckenhaft gekleideten jungen Männer zu seiner Rechten hört, während er die bärtigen Alten mit der linken Hand durch die Tür nach draußen schiebt (1. Könige 12).
Angesichts der Fülle an Bildern und Informationen ist es kein Wunder, dass zwischen dem Erscheinen des ersten und des zweiten Bandes der biblischen Reise vier Jahre liegen. Ein dritter Band ist geplant. Man darf sich darauf freuen.
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.