Vom Romantiker zum Avantgardisten
Vor 75 Jahren: Joseph Beuys schrieb Naturgedicht in Weimar
Von Michael von Hintzenstern
Er zählte zu den Wegbereitern einer neuen Kunstauffassung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Joseph Beuys (1921–1986). Der Zeichner und Bildhauer, Aktions- und Objektkünstler setzte sich mit Fragen des Humanismus, der Sozialphilosophie und der Anthroposophie auseinander. In seinen Werken unternahm er den Versuch, wieder eine Einheit von Natur und Geist herzustellen. Er erweiterte den Kunstbegriff und konzipierte die »Soziale Plastik«, womit er Ende der 1970-Jahre ein kreatives Mitgestalten in Gesellschaft und Politik einforderte.
Es ist jetzt 75 Jahre her, dass der gebürtige Rheinländer während seiner Ausbildung zum Bordfunker in Erfurt-Bindersleben an seinem 20. Geburtstag am 12. Mai 1942 Urlaub bekam und einen Tagesausflug nach Weimar unternehmen konnte. Er besuchte das Nietzsche-Archiv, Goethes Wohnhaus und Schloss Belvedere, wo er im angrenzenden Landschaftspark das Gedicht »Nordischer Frühling« verfasste. Die Zeilen sind nicht nur Zeugnis eines jungen, sensibel-romantischen Geistes, sie zeugen auch von seinem Studium der Metamorphosen-Lehre Goethes, der Weimarer Klassiker und der Jenaer Frühromantik.
Eine starke Sensibilität für Tiere, Pflanzen und Mineralien zeichnete Beuys schon in ganz jungen Jahren aus. Bereits als Zwölfjähriger pflanzte er vor dem Elternhaus eine Trauerweide, arbeitete als Tierpfleger in einem kleinen Wanderzirkus und legte Sammlungen von Fundstücken seiner ausgedehnten Naturexkursionen an.
Das Gedicht »Nordischer Frühling« entstand in jenem Jahr, als auf der Wannseekonferenz die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen wurde, der Blitzkrieg gegen die Sowjetunion ins Stocken geriet und erste Flächenbombardements der Alliierten deutsche Großstädte zertrümmerten. Das Goethe-Schiller-Denkmal war bereits zum Schutz vor Bombensplittern eingehaust, als er in Belvedere notierte: »O Frühling / deine tausend Kräfte strömen in mich hinein / wenn ich durch den Wald gehe / wie Baum an Baum hier das frühe Licht empfangen / durch das Filigran der Kronen fällt der rote / Schimmer auf die grünen Blätter …«
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