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Diakonie: Zwischen Glauben und Rechnen

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Anspruch und Wirklichkeit: Wieviel Diakonie steckt in den Angeboten sozial-diakonischer Einrichtungen, und ist Kirche noch erkennbar? Eine Bestandsaufnahme.

In den verschiedenen Einrichtungen des Marienstifts Arnstadt arbeiten zu etwa 50 Prozent Menschen, die kirchlich gebunden sind. Damit ist die Zahl der Christen hier größer als im Durchschnitt der Beschäftigten in Mitteldeutschland. Dennoch ist auch das Marienstift keine christliche Insel, sondern spiegelt die religiöse Wirklichkeit unserer Gesellschaft.
Die Arbeitswirklichkeit in den Einrichtungen zeigt, dass sich die Mitarbeiterschaft natürlich nicht in christlich Hochmotivierte und kirchlich ungebundene Normalmotivierte unterscheidet. Die Gaben, Ideen und auch die Hemmnisse sind unter uns gleichmäßig verteilt.
Die inhaltlichen und materiellen Ansprüche und Erwartungen aber gleichen sich bei allen Mitarbeitern und bei denen, die die Arbeit der diakonischen Einrichtung nutzen. Auch viele »unkirchliche« Mitarbeiter erklären die Motivation ihrer Arbeit darin, dass sie in Patienten, Schülern oder Beschäftigten Gottes Ebenbildlichkeit respektieren wollen. In der Klinik erwarten auch nichtchristliche Patienten ganz selbstverständlich und zu Recht den Geist christlicher Nächstenliebe und dass sie als Individuen und nicht als Patientennummern wahrgenommen werden.

Christliches Leben in der »realen« Diakonie

Schon aus diesem Grund ist die Pflege und die zeitgemäße Umsetzung christlichen Lebens in den verschiedenen Einrichtungen des Marienstifts eine Aufgabe, die nicht nur christliche Traditionen pflegen will, sondern den Erwartungen der Gegenwart nachkommen muss. Die Pflege christlichen Lebens ist einer der wichtigen »weichen Faktoren« diakonischen Wirtschaftens.
Einige Beispiele aus dem »christlichen Leben« der Einrichtung des Marienstifts:
• Andachten und Gottesdienste der Schule im Rahmen des Kirchen- und Schuljahres; Morgenkreise der Schüler; theologisch geprägte Projektarbeiten; Segensfeier für alle Schüler der
8. Klasse; einige Konfirmationen
• Regelmäßige Gottesdienste in der Werkstatt; allsonntägliche Gottesdienste für Patienten und Gemeinde in der Klinik; christliche Symbolik
• Mitarbeiterseminar zu Tradition und Leitbild der Stiftung; Diakoniekurs
• Mitarbeiterehrung, Würdigung und Verabschiedung im Rahmen von Andachten
• Jährlicher Impulsabend
• Eine kontinuierlich arbeitende Arbeitsgemeinschaft »Geistliches Leben«, die z. B. aktiv auf die Gestaltung des Diakoniekurses Einfluss nimmt.
Die christliche Prägung der Arbeit einer diakonischen Stiftung ist in dieser Zeit kein »Selbstläufer«. Immer sind es einzelne Mitarbeiter, die aktiv auf das »christliche Klima« ihrer Einrichtung Einfluss nehmen. Ein wie auch immer gestalteter »christlicher Zwang« hilft einem christlichen Geist nicht.
Christliches Leben in Einrichtungen zu ermöglichen hat auch finanzielle und wirtschaftliche Seiten, es kostet Geld. Freistellungen müssen ermöglicht, Prioritäten gesetzt und Räume gestaltet werden. Da der Arbeitsalltag in jeder Einrichtung auch durch Konflikte geprägt ist, macht der christliche Anspruch einer diakonischen Einrichtung das Arbeitsleben nicht leichter. Auch Neueinstellungen von Mitarbeitern können sich nicht nur an der Frage orientieren, ob sie Mitglieder in christlichen Kirchen sind. Fachlichkeit und persönliche Gaben sind ausschlaggebend.
Dennoch: Der gesetzliche und wirtschaftliche Rahmen, in dem Diakonie arbeitet, macht es – ohne die Herausforderungen und Widersprüche zu verharmlosen – Christen und Nichtchristen in unseren Einrichtungen objektiv leichter, »christlich zu leben« als in anderen Bereichen der Gesellschaft.
Es ist zeitgemäß, wirtschaftlich sinnvoll und notwendig, an der christlichen Prägung der Einrichtungen zu arbeiten. Die Nächstenliebe von Kanzeln zu predigen, reichte nie aus, Menschen für Gott zu gewinnen. Notwendig ist es, sie in der Widersprüchlichkeit des Arbeitslebens christlich zu leben. Wo steht geschrieben, dass sich Christen aus der Welt zurückziehen dürfen, nur um es einfach zu haben?
Pfarrer Andreas Müller, Direktor Marienstift Arnstadt

Die Freie Wohlfahrtspflege kann in Deutschland mit Fug und Recht als bedeutsamer Wirtschaftszweig angesehen werden. Sie beschäftigt mit einem jährlichen Umsatz von rd. 45 Milliarden Euro derzeit in über 105 000 Einrichtungen hauptamtlich rd. 1,6 Millionen Menschen, mehr als 5 Prozent des gesamten Dienstleistungssektors Deutschlands, mehr Personen als im Kredit- und Versicherungswesen und fast viermal so viel Personal wie im Bereich der Energie- und Wasserversorgung.
Die Diakonie ist die zweitgrößte Trägergruppe. In der übergroßen Mehrheit erbringt Diakonie wie die anderen Trägergruppen personenbezogene soziale Dienstleistungen, die im Rahmen der Sozialgesetzbücher als öffentlich refinanzierbar ausgewiesen sind. Sie ist damit eng an die Vorgaben und Vorstellungen des Bundes, der Länder und der Gemeinden gebunden.
Wie alle anderen Träger der Freien Wohlfahrtspflege arbeitet die Diakonie heute in einem Umfeld, das sich stark gewandelt hat. Die Auflösung von Marktzutrittsbarrieren für privat-gewerbliche Anbieter, die Umstellung der Finanzierung auf Einzelleistungsvergütung sowie ein der Erwerbswirtschaft nahezu analoger Wettbewerb sind die Stichworte, die die neuen Verhältnisse im »Sozialmarkt« beschreiben können.

Diakonie als Wohlfahrtsindustrie?

In vielen Zweigen der Wohlfahrtspflege ist ein Kosten- und Leistungsdruck zu verzeichnen, der hohe betriebswirtschaftliche Anforderungen an die Leitung der Träger, Einrichtungen und Dienste stellt. Auch Diakonische Anbieter sind mittlerweile gezwungen, den Blick auf die Aufwands- und Ertragsseite ihrer Arbeit zu richten, um konkurrenzfähig zu bleiben und das Überleben des Trägers gewährleisten zu können.
Die Anpassung an neue Umfeldbedingungen im Sinne einer Modernisierung von Strukturen und Prozessen ist gerade der Diakonie mit ihrem Traditionsverständnis und ihrem besonderen Anspruch nicht leicht gefallen. Fast zwangsläufig ergaben sich in der Frage der Ausgewogenheit von Wirtschaftlichkeit und theologisch-ethischen Ansprüchen an verschiedenen Stellen schwer auflösbare Ambivalenzen.
Wie in einem sehr großen und durchaus heterogenen Trägerverbund kaum anders zu erwarten, sind überdies einzelne betriebswirtschaftliche Überreaktionen und Fehlsteuerungen nicht ausgeblieben. Dies macht Diakonie, von der die Menschen seit jeher mehr als von vielen anderen Trägern erwarten, besonders leicht angreifbar. Schnell können dann in den Medien generalisierende Schlagzeilen wie »Wirtschaftsmacht unter einem frommen Deckmäntelchen« oder »Wohlfahrtsindustrie« entstehen.
Es ist ein Management angezeigt, welches im Spannungsfeld von Ökonomie, Diakonie und Kirche nicht nur mit Blick auf Öffentlichkeit ebenso sensibel wie ehrlich agiert. Dazu gehört auch die klare Haltung, an welchen Stellen Diakonie wie ein moderner Wirtschaftsbetrieb geführt werden darf und muss – und wo nicht.
Harald Christa, Professor für Sozialmanagement an der Evangelischen Hochschule Dresden

Diakonische Arbeit heute geschieht mitten in unseren bunten und unübersichtlichen Lebenswelten – sei sie ehrenamtlich, sei sie hauptamtlich. In diesen Lebenswelten will und muss sie sich bewähren. Mitarbeitende der Diakonie und ihre Führungskräfte stehen täglich vor neuen Herausforderungen: Die vertraglich vereinbarten Dienstleistungen (z. B. die Pflege) müssen fachlich und menschlich zuverlässig und ohne Ausnahmen erfolgen. Wegen Krankmeldungen werden Dienstpläne kurzfristig neu gestrickt. Die wachsende Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile sowie der Erwartungen von Kunden und Mitarbeitenden führen zu erhöhten Leistungsanforderungen.

Lebenswelten und Lebenswege

Es gleicht einer Quadratur des Kreises, individuelle Ansprüche und neue sowie wachsende Anspruchsgruppen bei gleichzeitig stark steigenden Qualitätsstandards und Dokumentationspflichten unter einen Hut zu bringen. In kurzen Abständen erweiterte Gesetze zum Daten-, Gesundheits-, Brand- und Arbeitsschutz sowie der Arbeitsmedizin und dem Arbeitsrecht zwingen zu bürokratischem Aufwand und treiben die dafür anfallenden Kosten in bisher unbekannte Höhen. Das Wunsch- und Wahlrecht von Kunden (Eltern, pflegebedürftige Menschen, Menschen mit Behinderungen etc.) und der politisch gewollte Kostendruck und Wettbewerb zwischen den freigemeinnützigen sowie privaten Trägern setzen die sogenannten Leistungserbringer unter erheblichen Druck.
Diese Liste ist nicht vollständig, aber sie zeigt auch so: Die Komplexität ist groß und fordernd. Und: Träger diakonischer Arbeit stellen sich diesen Aufgaben bewusst, willentlich und kompetent. Sie sind nicht fehlerfrei und brauchen konstruktive Kritik. Sie kennen die Logik ihres ureigenen christlichen Auftrags und sie lernen die Logik der fachlichen Qualitätsanforderungen, die Logik der technischen Funktionen (EDV, Digitalisierung), die Logik der knappen Ressourcen, die politische Logik des Machtgewinns und der Mehrheiten, die mediale Logik der geforderten Transparenz und der zuspitzenden Anklage. In der Diakoniewissenschaft hat sich hierzu die Bezeichnung der Diakonieträger als »multirationale Organisationen« eingebürgert.
Mitten in diesen Spannungsfeldern unserer modernen Gesellschaft arbeiten die freigemeinnützigen Träger der Wohlfahrtspflege. Die Gemeinnützigkeit einer Organisation ist an streng kontrollierte Auflagen des Finanzamtes gebunden. Sie erlaubt keine Gewinnausschüttungen an private Eigentümer, sondern fordert die Verwendung der Mittel, auch von Gewinnen, im sogenannten gemeinnützigkeitsrechtlichen Kreislauf.
Anders als es ein verbreiteter Sprachgebrauch will, sind freigemeinnützige Träger gerade keine privaten Träger! Gemeinnützige Träger stehen mit den Dienstleistungen, die sie im Auftrag des Staates bzw. von Sozialversicherungsträgern übernehmen, im Dienst der Gesellschaft, die sich mit der politisch gewollten Trägervielfalt subsidiär aufstellt.
Mitten in diesen bunten und unübersichtlichen Lebenswelten haben diakonische Träger viele Chancen, das ihnen eigene Profil zu entwickeln und zu bezeugen: In jedem diakonischen Tun (bilden, assistieren, begleiten, pflegen, beraten, heilen, anteilnehmen …) begegnen sich konkrete Lebenswege von zwei oder mehr Menschen. In diesen Lebenswegen geht es ausgesprochen oder unausgesprochen nicht nur um Heilung, sondern auch um Heil: Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein (vgl. 5. Mose 8,3; Mt 4,4). Es geht um den Weg von der Sinnlosigkeit zum Sinn, von der Ausweglosigkeit zum Aus-Weg: Ich denke an den blinden Bartimäus, dem Jesus sein Augenlicht wieder schenkt. Er sieht nicht nur im medizinischen Sinne, sondern er findet auch seinen neuen Lebensweg (vgl. Mk 10,46-52). Es geht darum, Menschen mit ihren existenziellen Fragen nicht allein zu lassen und ihnen Zeugnis zu geben »über die Hoffnung, die in euch ist« (1. Petr 3,15). Begegnungen können Lebenswege verändern – nicht nur die der »Klienten« – sehr wohl auch die der ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden!
Wenn wir heute nach neuen Formen von ausstrahlendem christlichen Gemeindeleben suchen in den Kirchgemeinden vor Ort und darüber hinaus (vgl. u. a. »Erprobungsräume« und »Querdenker« in der EKM), dann können sich Kirche und Diakonie mehr noch als bisher gegenseitig als Ressourcen verstehen und bereichern. Denn: Gelingendes Leben ist immer ein Zeugnis für Gott: »Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch« (vivens homo gloria dei) (Irenäus von Lyon, gest. um 200 n. Chr.).
Dr. Klaus Scholtissek, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Weimar Bad Lobenstein

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