Formel für Miteinander
Vor acht Jahren wurde die Evangelische Regelschule in Gotha gegründet. Hier lernen Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam bis zur zehnten Klasse.
Von Mirjam Petermann
Ein Konstrukt aus dünnen Glasrohren, Reagenzgläsern und einer mit Wasser befüllten Glasschüssel steht auf dem Lehrertisch. Mithilfe dieser pneumatischen Wanne wird für 25 aufmerksame Schülerinnen und Schüler einer siebten Klasse sichtbar, wie Wasserstoff abgespalten werden kann. Die Knallgasprobe über dem Bunsenbrenner bestätigt den geglückten Versuch.
Am Ende der Stunde merkt Lehrerin Bianca Schlosser-Arnold an, in der nächsten Stunde über Wasserstoff und seine Eigenschaften einen kurzen Test zu schreiben. Der wird jedoch nicht für alle gleich aussehen. Denn in dieser Klasse lernen gemeinsam mit 15 Regelschülern und vier Hauptschülern auch sechs Kinder mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Sie haben beispielsweise einen Förderbedarf beim Lernen, eine Entwicklungsstörung beim Sprechen oder eine geistige Behinderung. Gemeinsam behandeln sie den gleichen Unterrichtsstoff, ihr Wissen wird jedoch differenziert ge-
testet.
»Wenn es die Schule nicht schon gäbe, müsste sie noch gegründet werden«, davon ist Schulleiterin Sandra Diersch überzeugt. Es solle eine evangelische Schule für »normale« Menschen sein, für die, die es brauchen. Initiiert wurde die Gründung von Eltern, deren Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf die evangelische Grundschule besuchten. Nach der vierten Klasse fehlte ihnen eine Alternative im staatlichen Schulsystem.
2009 konnte mit 26 Schülerinnen und Schülern in zwei Klassen gestartet werden. Heute lernen hier in neun Klassen (Klassenstufen 5 bis 10) 186 Schülerinnen und Schüler, davon 34 mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Sie werden von einem sehr jungen Kollegium unterrichtet. In den Klassen arbeiten immer eine Lehrkraft und ein Erzieher oder eine sonderpädagogische Fachkraft zusammen.
Die bestmögliche Bildung für die Kinder werde mithilfe von Förderplänen für alle Schüler gewährleistet. Sie helfen, die einzelnen Ziele und Bedürfnisse im Blick zu behalten. »Wenn die Kinder ein Bild oder eine Idee haben, etwas, was sie in ihre Vorstellung mitnehmen können, dann ist das schon sehr viel wert«, beschreibt Chemielehrerin Bianca Schlosser-Arnold das grundsätzliche Ziel ihres Unterrichts. Schulleiterin Diersch ergänzt: »Wenn man nicht an ihre Lebenswelt anknüpft, hat man keine Chance.«
Die Gedankenwelt der Kinder erobern kann auch Claudia Leser im Geschichtsunterricht einer fünften Klasse. Alle Kinder liegen mit den Köpfen auf den Tischen oder sind auf ihren Stühlen weit nach unten gerutscht. Sie haben die Augen geschlossen oder starren an die Decke. Ihre Lehrerin schickt sie auf eine Zeitreise, 5 000 km weit weg und Tausende von Jahren zurück. Mit ruhiger Stimme beschreibt sie detaillierte Bilder. Als die Kinder ihre Augen wieder öffnen, liegen auf dem Overheadprojektor Fotos von Kamelen, Pyramiden und Pharaonen. Die Kinder ergänzen begeistert, was sie alles über Ägypten wissen. In dieser Klasse lernen unter anderen ein autistischer Junge und drei Kinder mit einem Förderbedarf.
Sandra Diersch bezeichnet ihre Schule als »integrative Schule auf dem Weg zur Inklusion«. Denn trotz gut funktionierender Lernstrukturen sieht sie ein Problem: »Wir erleben mit Beginn der Pubertät, dass die geistig behinderten Kinder akzeptiert werden und ihnen geholfen wird. Aber es gibt keine Freundschaften mehr.« Es ist ihr Anliegen, die teilweise schon seit dem Kindergarten bestehenden Freundschaften zu bestärken. Denn änderten sich für beeinträchtigte Kinder soziale Komponenten, führe das schnell zu Leistungsabfall. Eine Lösung für diese Herausforderung und ein neues Schulgebäude sind die größten Wünsche der engagierten Schulleiterin für die Zukunft der Schule.
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