Brief von Bruder F. v. 1. Advent 2006
Meist hast Du die Nase vorn, aber nicht immer

Lieber Martin!

Der Gedanke, Dich in Deinem jetzigen Zustand im Krankenhaus besuchen zu wollen, war sicher etwas voreilig. So möchten ich Dir wenigstens einen Gruß schreiben. Ich schreibe zur Erleichterung mit dem PC, auch etwas größer als gewöhnlich und lasse die Kinder mit unterschreiben, denn die kommen heute Mittag zum Essen. Tino ist schon da und  gestern im Bett hat er ein herzliches Gebet für Dich gesprochen, das mich sehr angerührt hat. Beinahe hätte ich mit "Lieber Hein" begonnen. Denn unter diesem Namen begegnest Du mir schon wo-chenlang in den Briefen unserer Mutter. Meist hast Du die Nase vorn. Umso mehr freue ich mich über Text-stellen, wo Du auch einmal anders dargestellt wirst, wie "Hein ist ein Deibel, aber ein lieber!" Nun, Dir wird nicht zum Lachen zumute sein. Aber vielleicht kannst Du schon wieder schmunzeln. Ich glaube ja, dass Dir Dein Gedärm auch wieder zurück verlegt werden kann, Im letzten Sommer hatte ich eine Darmspiegelung. Ich habe mich immer davor gescheut. Wer lässt sich schon gerne von Innen anschauen? 

Das ist überhaupt so ein Problem mit uns. Das "Innen" wahr zunehmen, jetzt im seelischen Sinne, war nie unsere starke Seite in der Familie. Der starke Vater ließ eine hohe Emotionalität, wie wir sie zweifellos alle besitzen, nicht zu. Es wurde aber nicht darüber gesprochen. Es wurde gealbert. Es wurde gespielt. Wir gingen spazieren. Aber wir gingen nicht nach "Innen". Natürlich haben wir das in unserem Leben noch gelernt. Über meine Tiefen, zu denen ich in meinem Leben gezwungen wurde,  könnte ich stundenlang reden. Aber wenn es nicht unbedingt nötig ist, vermeide ich es. Besonders in der Beziehung zu dem Menschen, der uns an die Seite gestellt ist, und dem wir unendlich viel zu danken haben. So möchte ich Euch ganz brüderlich ermuntern: redet miteinander. Ihr habt sicher auch Eure eigene Sprache entwickelt in den Jahren des gemeinsamen Weges. Ihr
werdet nicht nur gesund, sondern auch gewachsen aus dieser Krankheit hervorgehen.

Das mag belehrend klingen, was mir nicht zusteht. Aber da sich keiner selbst trösten kann, muss ich es im Namen Gottes so sagen. Du, lieber Martin, warst doch alle Zeit ein großer Beter. Ich erinnere mich daran, wie wir einmal als Jugendliche auf einer Radtour im Harz in ein fürchterliches Gewitter gerieten. Wir hatten keine Chance, ihm davon zu fahren. Wir waren mittendrin. Wir stellten unsere Räder an verschiedene Bäume und legten uns in einigem Abstand flach an einen Graben, der sich schnell mit Wasser füllte, und deckten uns mit unseren Zeltplanen zu. Und wir beteten wie selten in unserem Leben. Und diese Gebete wurden erhört, und wir konnten wie neugeboren unsere Tour fortsetzen. Ja, wir konnten unser ganzes Leben der großen Aufgabe widmen, für andere Menschen da zu sein. Das war schön, wenn auch nicht immer erfolgreich. Du warst der
Musikus in unserer Familie durch Deine Gaben und Deine Ausbildung. Von uns allen aber wurde, je nach Veranlagung diese Tradition fortgesetzt. Die vielen Ereignisse, Bläserfeste und Konzerte, die wir zusammen oder auch alleine erlebt haben, das weihnachtliche Singen zum Geburtstag der Mutter, die musikalische Arbeit in unseren Gemeinden  hat uns sehr geprägt. Das war schön, und dafür wollen wir dankbar sein. Sich trösten heißt immer zuerst, sich erinnern zu lassen an das Gute in unserem Leben. Das wisst Ihr ja auch. 

Lieber Martin, wir wünschen Dir frohen Mut, denselben, den Du immer anderen gezeigt hast, so sehr, dass sie darüber froh geworden sind. Sieh nach vorn. Mit Deinem großen Vorfahren, Martin Luther, möchte ich Dir das Psalm-Wort zurufen, das sein Lieblingswort war und auch meines ist: "Ich werde leben und des Herren Werke verkündigen." Verlier nicht den Mut. Du wirst noch gebraucht. Deine wunderbare Familie und viele Menschen um Dich herum brauchen Dich. In diesem Sinne wünschen wir Dir Schalom, das Wohl des Leibes und der Seele.
Ganz herzlich
Deine Friedemann und Ilse mit Steffi und Thomas, Toni und Tino

(Geschrieben nach meiner Darmverlegung 2006, die 2007 wieder rückgängig gemacht werden konnte.
Gott sei Dank!)

Autor:

Martin Steiger

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