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Es war ein schöner Nachmittag in Straßburg
JACOBUS STAINER

Manchmal träume ich davon, dass ich irgendwo auf einem Dachboden eine alte Geige von hohem Wert finde. Es muss nicht gleich eine Stradivari oder Guarneri sein. Eine von Paolo Maggini, Sebastian und Matthias Klotz oder Jacob Stainer würde mir schon reichen. Ich habe einmal als Schüler eine Kopie von Amati gespielt. Sie hatte einen wundervollen Klang und war auf allen Saiten und in allen Lagen makellos. Ich musste sie wieder abgeben, nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte. Doch seitdem ist in mir eine tiefe Sehnsucht nach einem
Instrument von einem der großen Geigenbauer. Heute würde ich allerdings versuchen, sie zu verkaufen. Mit dem eigenen Spielen ist es nicht mehr weit her. Ich spiele nur noch, wenn keiner zu Hause ist. Man müsste auch befürchten, dass sie einem eines unschönen Tages geklaut würde. Und ich käme für den Fall des  Verkaufs endlich einmal zu Geld und könnte mir und meiner Familie diesen und jenen größeren Wunsch erfüllen...

Es war ein schöner Nachmittag in Straßburg. Wir hatten das schöne Münster besucht, waren ein wenig in die Stille gegangen und hatten uns gefreut über die wunderbar durchstrahlte Rosette des Westwerks. Dann gehen wir hinaus und kommen auf der Suche nach einem guten Kaffee auf einen Trödelmarkt. Was da alles angeboten wird, und was dort für ein Leben ist. Irgendwo liegen auch Instrumente, darunter einige Geigen. Die muss ich mir ansehen! Keine Saiten, keine Wirbel, keine Stege. Die Kästen ramponiert, die Bögen ohne Bezüge.
In einer Geige finde ich eine Herkunftsangabe: Jacobus Stainer in Absam prope Oenipontum 1713. Ich kann meine Erregung kaum verbergen. Wenn das eine echte Stainer wäre! Erworben auf einem Trödelmarkt in Frankreich! Sie hat einen tiefdunklen Lack, und kurz entschlossen kaufe ich sie. Wenn sie denn nicht echt wäre, dann hätte ich 150.--DM in den Sand gesetzt. Für weitere Gespräche und Ereignisse bin ich an diesem Tage unbrauchbar. Meine Gedanken kreisen um die Geige, und ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und nachzusehen.

Als wir endlich zu Hause sind, nehme ich mein Lexikon zur Hand und lese: Jakob Stainer, größter deutscher Geigenbauer", Nicola Amati ebenbürtig und nur von Stradivari wirklich übertroffen", wahrscheinlich 1617 in Absam bei Hall in Tirol geboren, wegen des Besitzes ketzerischer (lutherischer) Schriften zu Gefängnis verurteilt, zeitweilig "tobsüchtig" und 1683 in Armut verstorben. Todesjahr 1683, d.h.: meine Geige (1713) ist eine Fälschung! Das hätten die Fälscher wissen müssen. Aber ich habe es ja auch nicht gewusst. Und wer hatte 1713 schon ein Lexikon, in dem man bedeutende Geigenbauer hätte nachlesen können!? Ausgang des 18. Jahrhunderts sollen Sammler für Geigen von Stainer viermal soviel geboten haben wie für die von Sradivari. Deshalb gibt es so viele Nachahmer und so viele Fälschungen!

Nun, ich habe weiter investiert. Neuer Steg, neue Saiten, neue Wirbel. Das kostet heutzutage ein Vermögen! Sie ist nicht "meine Geige" geworden. Die a-Saite klingt nicht. Vielleicht könnte man durch Veränderung des Stimmbalkens etwas erreichen? Ich spiele, wenn ich spiele, meine Stradivari-Kopie aus Markneukirchen, oder wo immer sie her ist. Die ist sehr ordentlich. Aber manchmal nehme ich meine Stainer aus ihrem verkeimten Kasten, mache ein paar Striche und freue mich an ihrem edlen Lack. Ein teures Vergnügen!

Autor:

Martin Steiger

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