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Der Gottesdienst hat ein weites Herz

Menschen mit unterschiedlichen Verfassungen sollen zu ihrem Recht kommen – Das Ende der Zielgruppenorientierung

Von Folkert Fendler

Die Vielfalt der Gottesdienste ist unübersehbar geworden. Schon lange kennen wir Familiengottesdienste, Jugendgottesdienste und Kindergottesdienste. Wir kennen Schulanfangsgottesdienste, Schulgottesdienste und Gottesdienste in Senioreneinrichtungen. Manche haben vielleicht auch schon von der Thomasmesse gehört, die sich besonders an Zweifler richtet, vom sogenannten »GoSpecial« mit Interview und Kreuzverhör des Pastors oder dem abendlichen Nachteulengottesdienst. Vor einigen Jahren entdeckte man darüber hinaus die Bedeutung der Milieuzugehörigkeit der Menschen für den Gottesdienst. Man stellte fest, dass Vorlieben, Musikgeschmäcker und Erwartungen an Gemeinschaft, die die Menschen auch sonst in ihrem Alltag haben, auch ihre Erwartungen an den Gottesdienst prägen.
Das war einerseits sehr aufregend, denn nun konnte man besser verstehen, warum die einen Orgelmusik von Bach lieben und andere gerade damit gar nichts anfangen können; warum die einen Anspiele im Gottesdienst mögen und eine zu Herzen gehende Predigt, andere dagegen lieber die gesungene Liturgie wünschen und eine Predigt, die auch den Intellekt herausfordert; warum die einen Nähe im Gottesdienst suchen und Stuhlkreisgottesdienste, Bewegungslieder und gegenseitiges »An-den-Händen-Fassen« lieben – und andere eher Distanz pflegen, und daher lieber fern bleiben, wenn sie im Gottesdienst zu viel Kontakt mit den anderen aufnehmen sollen.
Andererseits stellte man mit Schrecken fest, dass es fast unmöglich ist, einen Gottesdienst zu feiern, der allen gefällt. Soll man in Zukunft etwa nur noch Zielgruppengottesdienste feiern? Wer soll das leisten? Vor allem: Was heißt das für den Gottesdienst, der doch die Mitte der Gemeinde sein sollte?
Im Marketing gibt es interessanterweise seit einigen Jahren eine Strömung, die das Ende der Zielgruppenorientierung ausgerufen hat. Danach lassen sich Menschen heute nicht mehr wie früher klaren Gruppen zuordnen, weder Altersgruppen noch Milieugruppen, selbst die Grenzen zwischen den Geschlechtern verschwimmen. Junge wollen alt sein, Alte jung, Frauen kaufen Produkte, die vorher typisch für Männer waren und umgekehrt. Hose – Mann, Kleid – Frau, das war gestern, eigentlich sogar schon vorgestern. Menschen lassen sich nicht mehr so leicht festlegen. Sie werden immer stärker zu multiplen Persönlichkeiten, können mal so und mal anders handeln und entscheiden, haben einen breiteren Musikgeschmack, fallen zunehmend auch mal aus der Rolle und passen sich gern den Situationen an, in denen sie sich gerade befinden. Sie geben stärker als früher ihren inneren »Verfassungen« nach. Man spricht daher vom »Verfassungsmarketing«, das nun nicht mehr die klassischen Zielgruppen bewirbt, sondern bestimmte Verfassungen, die quer zu den bisherigen Zielgruppen liegen können. So wirbt etwa Milka seit einiger Zeit mit Schokoladensorten für die Verfassungen »verrückt«.
Was könnte diese Entwicklung für den Gottesdienst bedeuten? Meines Erachtens liegt darin die Chance, den einen Gottesdienst wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Denn der Gottesdienst hat das Potenzial, unterschiedliche Verfassungen zu bedienen, ohne dadurch zu einem Zielgruppengottesdienst werden zu müssen. Gottesdienst kann, um das Beispiel der Gemeinschaft aufzunehmen, sowohl Nähe als auch Distanz inszenieren. Oft wird die Nähe als das Ideal gesehen, das die Distanzbedürftigen abschreckt. Ebenso oft erlebt man Gottesdienste, in denen die Menschen sich distanziert begegnen, kaum angucken, geschweige denn anreden, was diejenigen abschreckt, die auch menschliche Geborgenheit im Gottesdienst suchen. Wenn beide Bedürfnisse im Blick bleiben, dann ließe sich einiges gestalten, sodass auch beide zu ihrem Recht kommen. Man denke nur an die Gestaltung des Abendmahls (Friedensgruß, Händereichen, Aufstellung), an die Begrüßungs- und Verabschiedungssituation. Durch sensible Gestaltung kommen Nähe- und Distanzbedürftige beide zu ihrem Recht, keiner fühlt sich genötigt oder an den Rand gedrängt. Der Gottesdienst hat ein weites Herz, wenn seine Gestalter nicht ihre eigenen Ideale absolutsetzen. Ähnliches gilt für inhaltliche Dimensionen des Gottesdienstes. Er kann Trost schenken, er kann für die Nöte anderer sensibilisieren, er kann Bestätigung schenken, aber auch zu neuen Aufbrüchen aufrütteln.
Vieles, wenn auch nicht alles, lässt sich in einem Gottesdienst realisieren. Daher muss die Pluralität von Gottesdiensten auch nicht völlig aufgegeben werden. Aber es könnte lohnen, statt auf Zielgruppen zu setzen, die durch Merkmale wie Alter, Geschlecht oder sozialer Hintergrund geprägt sind, auf Verfassungen zu achten, in denen Menschen sich befinden und die der Gottesdienst aufnehmen kann. Welches wären etwa typische Sonntagmorgen-Verfassungen? Ausschlafen wollen, Zeit haben, in Ruhe frühstücken, mit der Familie zusammen sein, Sport treiben wollen – und wie könnte daran der Gottesdienst vielleicht anknüpfen?

Der Autor ist Rektor des Pastoralkollegs Niedersachsen. Bis 2016 war er Leiter des Zentrums für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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