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Zünde die Lampe an, Don Camillo

Foto: Maria Landgraf

Eine Erzählung von Giovannino Guareschi mit einer Illustration von Maria Landgraf

Don Camillo blickte zum Christus am Hochaltar auf und sagte: »Jesus, es gibt auf der Welt zu viele Dinge, die nicht in Ordnung sind.« – »Ich meine dies nicht«, antwortete Christus. »Nur die Menschen sind nicht in Ordnung. Sonst ist alles in Ordnung.« Don Camillo ging eine Weile auf und ab. Dann blieb er wieder vor dem Altar stehen. »Jesus«, sagte er, »wenn ich zu zählen beginne … eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben … und eine Million Jahre fortfahre zu zählen, werde ich dann jemals zum Ende kommen?« – »Nein«, erwiderte Christus. »Wenn du so tust, bist du wie jener Mensch, der einen großen Kreis um die Erde zog, ihn abzugehen begann und sprach: ›Ich will sehen, wann ich zu Ende komme.‹ Du würdest nie an ein solches kommen.« Don Camillo ging schon im Geist jenen großen Kreis und verspürte den Schauer, der jeden erfasst, welcher versucht, einen Augenblick aus dem Fenster zu blicken, das in die Unendlichkeit schaut.
»Und doch«, bestand Don Camillo, »ich behaupte, dass auch die Zahlen ihr Ende haben müssen. Nur Gott ist ewig und unendlich, und wenn die Zahlen kein Ende hätten, wären sie ewig und unendlich wie Gott.« – »Don Camillo, was hast du eigentlich mit den Zahlen?« – »Weil nach meiner Meinung die Menschen gerade wegen der Zahlen nicht in Ordnung sind. Sie haben die Zahl entdeckt und aus ihr den höchsten Maßstab der Welt gemacht.«
Don Camillo schritt in der leeren Kirche auf und ab. Dann blieb er wieder vor Christus stehen: »Jesus, ist diese Flucht der Menschen in das Blendwerk der Zahl nicht ein verzweifelter Versuch, ihre Existenz als denkende Menschen zu rechtfertigen?« Er schwieg eine Weile bekümmert. »Jesus, gibt es also keine Ideen mehr? Haben die Menschen bereits alles Denkbare zu Ende gedacht?« – »Don Camillo, was verstehst du unter Idee?« – »Für mich, den armen Landpfarrer, ist die Idee eine Lampe, die in der tiefen Nacht der menschlichen Unwissenheit brennt und eine neue Seite der Größe des Schöpfers ins Licht rückt.«
Christus lächelte. »Du bist mit deinen Lampen der Wahrheit nicht einmal so fern, mein armer Landpfarrer. Hundert Menschen waren in einem riesigen, finsteren Raum eingeschlossen, und jeder von ihnen hatte eine erloschene Lampe. Einer zündete seine Lampe an, und siehe da, die Menschen konnten einander ins Gesicht schauen und sich erkennen. Noch einer zündete seine Lampe an, und man entdeckte einen nahen Gegenstand; und je mehr Lampen entflammt aufleuchteten, umso mehr Dinge kamen ans Licht; und als sie zum Schluss alle ihre Lampen angezündet hatten, erkannten sie alle Dinge, die in jenem riesigen Raum waren, und es war alles schön, gut und herrlich.
Verstehe mich gut, Don Camillo, es waren hundert Lampen, aber nicht hundert Ideen. Es gab nur eine einzige Idee – das Licht der hundert Lampen; denn nur dadurch, dass hundert Lampen angezündet wurden, konnte man alle Dinge in jenem Raum sehen und alle Einzelheiten ausnehmen. Und jede Flamme war nur der hundertste Teil eines einzigen Lichtes, der hundertste Teil einer einzigen Idee, der Idee von der ewigen Existenz und der Größe des Schöpfers. Als ob ein Mensch eine kleine Statue in hundert Stücke zerschlagen und jedem einzelnen der hundert Menschen ein Stück anvertraut hätte. Es waren nicht hundert Abbilder einer Figur, sondern hundert Bruchstücke einer einzigen Figur. Und die hundert Menschen suchten einander, versuchten, die hundert Bruchstücke zusammenzufügen, und es entstanden tausend und abertausend ungestalter Figuren, ehe es gelang, jedes Stück genau an das zugehörige andere zu fügen. Aber schließlich war die Statue wieder beisammen.
Verstehe mich gut, Don Camillo, jeder Mensch zündet seine Lampe an, und das Licht der hundert Lampen war die Wahrheit, die Offenbarung. Damit hätten sie sich zufriedengeben sollen. Aber jeder glaubte, dass die schönen Dinge, die er sah, nicht ihrem Schöpfer zuzuschreiben wären, sondern seiner eigenen Lampe, die imstande war, aus der Finsternis des Nichts so schöne Dinge entstehen zu lassen. Und der eine fuhr fort, die Lampe anzubeten, andere gingen dahin und dorthin, und das große Licht zerfiel in Hunderte winziger Flämmchen, von der jedes nur ein Stück Wahrheit erhellen konnte. Verstehe mich gut, Don Camillo, es ist notwendig, dass sich hundert Lampen vereinigen, um das Licht der Wahrheit wiederzufinden. Die Menschen irren heute ohne Vertrauen umher, jeder im armseligen Licht seiner eigenen Lampe, und alles um sie kommt ihnen dunkel, traurig und trübsinnig vor; und da sie das Ganze nicht erkennen, klammern sie sich krampfhaft an die geringste Einzelheit, die ihr mattes Licht aus dem Schatten geholt hat. Es gibt keine Ideen, es gibt nur eine einzige Idee, eine einzige Wahrheit, die aus vielen Tausend Teilen besteht. Die Menschen können sie aber nicht mehr sehen. Es gibt keine Ideen mehr, weil es nur eine einzige und ewige Idee gibt; es ist aber nötig, dass sich jeder zurückwendet und zum anderen findet, mitten in diesem riesigen Raume.«
Don Camillo breitete die Arme aus. »Jesus, man wendet sich nicht zurück …«, seufzte er. »Diese Unglücklichen verwenden das Öl ihrer Lampen, um ihre Maschinenpistolen und schmutzigen Maschinen zu ölen.« – Christus lächelte: »Im himmlischen Reich fließt das Öl in Strömen, Don Camillo.«

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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