Friedrich Schorlemmer
Den Frieden riskieren
Rückblick: Das Jahr 1993 stellte eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte dar. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligten sich deutsche Soldaten wieder an einem Kampfeinsatz. Am 10. Oktober des Jahres wurde Pfarrer Friedrich Schorlemmer mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Seine Dankesrede hat nichts an Aktualität eingebüßt.
Von Friedrich Schorlemmer
In einer Bürgerkirche, einem Tempel der Demokratie sind wir - und Sie erlauben mir, dass ich Sie als >Bürger< begrüße und nicht mit Ihren Funktionen. Ich begrüße Sie in den vorderen wie in den hinteren Reihen.
Zwei Bürger darf ich stellvertretend begrüßen. Der eine hat sich noch nachgemeldet - ein Hallenser! Ich möchte Hans-Dietrich Genscher sehr, sehr herzlich begrüßen und mit Ihnen alle, die den Weg zur Einheit geschafft haben und sich jetzt den Schwierigkeiten auch stellen, ehrlich und hoffnungsvoll.
Verehrter, lieber Herr von Weizsäcker, Sie haben in einer mich berührenden Weise einen Weg nachgezeichnet, auf dem ich zusammen mit anderen versucht habe zu gehen. Ohne uns zu erhöhen oder zu erniedrigen, haben Sie es wohl vermocht, uns gerecht zu werden. Unsere innere Einheit lebt von solchem gesuchten Mit-Verstehen. Das tut mir und gewiss vielen anderen auch einfach gut. Danke.
Ich danke allen, die in diesen bewegten Jahren durch ihren Mut zum Risiko beigetragen haben, dass ich mit vielen Ostdeutschen zusammen heute hier überhaupt sein und frei sprechen kann. Ich erinnere mich, wem wir entronnen sind. Ich sehe nicht ohne Sorge und nicht ohne Hoffnung, was vor uns liegt.
Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich an einem Sonntagmorgen in der säkularisierten Pauls-Kirche sage: Zuerst HALLELUJA, dann KYRIE.
Und das Zweite: In so einer Kirche darf ich als Pfarrer einen solchen Preis nicht annehmen. Paulus sagte: »Was soll das Rühmen; es ist ausgeschlossen.« Aber er fährt dann fort - ich habe nachgesehen, ob ich es darf: »Wir sind euer Ruhm.«
Vergessen wir nicht das Leben zu preisen für jeden Tag, den wir leben dürfen, gar mit Brot, Wohnung, Arbeit. Nichts ist selbstverständlich. Wer das weiß, kann seine Lebensansprüche zugunsten anderer gelassen reduzieren.
Ich spreche hier nicht ex cathedra; ich bringe Streitbares in Strittiges ein - aber es ist nicht fertig, sondern will Gespräch.
So sehr es um Politik geht, so sehr geht es letztlich um jeden von uns, seine Friedensfähigkeit und Zivilcourage im Konflikt.
Vor acht Tagen erst schlitterten wir - diese vielgestaltige, widersprüchliche Menschheit - wieder am Rande des Abgrunds. Es ist schon verwunderlich, dass wir noch einmal knapp davongekommen sind. Ist das geschenkte Gnadenfrist? Gelingt es uns, die Lern-Pausen zu nutzen oder sollten diejenigen recht behalten, die meinen, wir hätten nach wie vor die innere Verfassung und den äußeren Horizont von Neandertalern, doch mit Verfügungsgewalt über Atomwaffen? Krieg und fortwährendes zentrifugales Konfliktpotential im Herzen einer Atommacht mit x-fachem Overkill lässt uns den Atem anhalten und weist uns schmerzhaft darauf hin, wie gefährdet der in sich unberechenbare und im Konflikt sich maßlos vergessende Mensch ist.
Und dieser Mensch kann über gattungsgefährdende Machtmittel verfügen. Bleibt der Koffer mit den entscheidenden Zahlenkombinationen in »guten Händen«? - 26.500 Nuklearsprengköpfe! Wenn dort Armeeteile gegeneinander gekämpft hätten... Nicht auszudenken! Und ein Land, das zur Erhaltung der Demokratie Militär braucht, begibt sich in die Hand des Militärs. Was wird aus der Demokratie werden, was aus den Abrüstungsverträgen?
Es ist wieder komplizierter geworden, dem Frieden das rechte Wort zu reden, wo sich Welt-Wirrnis und Wort-Wirrnis den Rang ablaufen. Mehr denn je spüre ich, wie wahr Satz und Gegen-Satz sind, wie Licht zu Zwie-Licht wird, wie wir ausgerechnet im hitzigen Streit um den wirksamen Weg zum Frieden den Frieden verlieren.
Und doch sehe und säe ich - und nicht nur ich - unverdrossen das Senfkorn Hoffnung, genieße die Früchte unseres Friedens, blende das Weltelend zeitweilig aus, will leben.
Nur unter einem doppelten Vorbehalt kann ich annehmen, was mir, einem Verehrer all derer, die Sie bisher geehrt haben, zugekommen ist.
Ich stehe jetzt hier oben und kann hier nur stehen, weil ich für Euch und mit Euch hier stehe, meine lieben Freunde und Weggenossen, damals und jetzt. Wir haben versucht zu tun, was wir zu tun schuldig waren. Daraus mag uns Selbstbewusstsein ohne Selbstüberhebung und niederlagengetröstete Gewissheit erwachsen sein. Was wir taten, war so unscheinbar wie wunderbar, so beglückend wie bedrückend, bisweilen auch so kümmerlich wie jämmerlich, so dass weder nachträgliche Feiglings-Denunziation noch eine Opfer-Heroisierung angemessen wäre. Ich jedenfalls bin dankbar für eine Kirche,
in der mir große Verantwortung auferlegt wurde und die mir stets große Freiheit ließ und lässt. Dafür bin ich sehr dankbar. Ein Pfarrer ist ein freier Mann. Wenn Sie seine Lasten vergessen, ist es das Schönste, was man sein kann auf dieser Welt.
Kirchenleitungen, mit denen ich zu tun hatte, bewährten sich zuallermeist - vergessen wir das nicht - als Prellböcke, nach allen Seiten hin. Synoden wurden Ort demokratischer Streitkultur: auch kleine Gemeindeversammlungen waren Übungsfelder für aufrechten Gang, für Friedfertigkeit und Friedensengagement. Das soll so bleiben.
Tagtäglich schlägt uns nun soviel Gewalt und Armut, Zerstörung und Hass, Tränen und Blut, letztlich so viel Sinn-Losigkeit entgegen, dass wir an der Menschheit zu verzweifeln beginnen, dessen Einzelexemplar jeder selbst ist. Wir können nur froh sein, wenn wir - noch - nicht mittendrin sind. Wo unsere Welt in gefährlichen Aufruhr, unwägbare Umbrüche, soziale und ökologische Katastrophen taumelt und unser eigenes Land in eine merkwürdig diffuse Gemütslage, mit irritierenden Anleihen an dunklere Vergangenheit gekommen ist, da kann ich diesen »Friedenspreis« nur als Würdigung eines bestimmten Weges, mehr noch als eine Ermutigung verstehen, weiter aus einem DENNOCH zu leben, unbeirrt dabei zu bleiben, dem inneren und äußeren Frieden mit Mitteln des Friedens zu dienen.
Aufgewachsen bin ich in einer Religiosität, in der wir »Beten und das Tun des Gerechten unter den Menschen« zu verbinden suchten, wo das Beten nicht das Tun ersetzte, wo Beten vielmehr selber ein Tun wird, das durch kein anderes Tun ersetzt werden kann. (Werner Krusche)
Das aber ist nicht etwas Rituelles, sondern etwas Expressives: Hoffen und Klagen, Singen und Spielen, Fragen und Hadern, Sprechen und Schweigen, Protestieren und Bitten, Danken und Staunen, Weinen und Lachen und schließlich immer: Wohnung finden im Haus der Sprache, in Worten und Geschichten des Glaubens.
Heute sind hierher viele Menschen gekommen, die Zivilcourage zeigten, diesen täglich neu aufzubringenden Mut, ein eigenverantwortetes JA oder NEIN zu sagen und danach zu tun: der Lehrer, der Stasiwerbungen widerstand, die Schülerin, die nach ihrem Brief an »den Minister für Volksbildung, Margot Honecker« gegen Wehrunterricht in erniedrigende Verhöre geriet, auf sich allein gestellt, tapfer bestand und trotzdem Lehrerin wurde, der Elektriker, der wegen seiner Friedensseminararbeit ins Gefängnis ging, rauskam, nicht wegging, weitermachte und - macht (er kommt direkt von einem Friedensseminar in Friedenswalde), der Leipziger Nicolai-Kirchen-Pfarrer, der Tierpräparator, der minutiös unwürdige Geheimnisse um das strahlende Wismut offenlegte, der Pflugschar-Schmied, der Flanell-Aufnäher-Erfinder, die Ärztin, die auf dem Lande Leute für Demokratie und Frieden sammelt, der Mathematiker, der in schwierigen Konfliktsituationen das Nötige mit dem Machbaren zu vermitteln verstand, der Theologe, der 25 Jahre lang unser horizonterweiternder Vordenker wurde, der Bischof, der mich damals begleitete, schützte, dessen Schüler ich bin und der andere, der jetzt mein Bischof ist. Oder die Kantorin, die Kindern mit Musik das Gemüt zum Frieden hin öffnete, die Freunde, die mit gewitzter Phantasie die anstößigen Plakate entwarfen und es jetzt wieder tun. Sie und viele andere, die aus den östlichen Bundesländern heute hier sein können, widersprachen praktisch dem Satz »Man kann doch nichts machen« und taten, was sie für nötig und richtig hielten, oft allein, ja auch vereinsamt. Doch wir fanden uns in kleinen, vertrauten Gruppen, in denen Beunruhigung zur Sprache kam und Hoffnung zur (zeichenhaften) Handlung wurde. Wir wurden einander eine Ermutigung. Repressive Folgen selbstverantworteter Einmischung trieb viele, zu viele entnervt aus dem Land.
Es ist wahrlich »unendlich viel leichter, im Gehorsam gegen einen menschlichen Befehl zu leiden als in der Freiheit eigenst verantwortlicher Tat«. Widerstehen kann scheitern oder gar zu rechthaberischer Eigenbrötelei verkommen - auch das ist uns widerfahren. Andere mögen ihre Kraft zum Durchstehen woanders her bekommen; für uns Christen beruhte und beruht freie Verantwortung »auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht«.
Ein Zeuge wie Bonhoeffer hat uns zum eigenen Zeugnis inspiriert.
Ein von den einen bewunderter, von anderen belächelter Glaube hat uns aufrechter und aufrichtiger leben lassen, als wir uns das selber zutrauten in den Landschaften der »dialektischen« Lügen und der geballten Friedensfäuste. Mein auch leidenschaftliches Plädoyer für einen Frieden, der nicht nur Ziel, sondern zunächst Weg ist, kommt nicht zuletzt aus der Begegnung mit meinen eigenen Abgründen und mit meinem Scheitern.
Ich - und das sind Erkenntnisse, die mir Literatur, neben dem großen Buch der Bücher vermittelt hat - ich bin zu allem fähig: Ein Kreuzritter der Welterlösung und Kleininquisitor der Wahrheit, Eichmann-Sohn und Mielke-Nachbar, Serben- und Kroatenbruder, ich, Brand-Satz-Sprecher, Befehlender und Gehorchender eines Schießbefehls, einer Vergeltungsaktion, einer Brandrodung. Und ich, auf dem Wege mit Jesus und Maria, Theresa und Mahathma, Franz und Nelly, Lew und Edith, Dom Helder und Rosa?. Und ich bin ein seliggepriesen Sanftmütiger, ein barmherzig Liebenswürdiger, ein friedfertig Friedensfähiger. Wohin führt mich mein Weg, welche Wahl wird mir gelassen, wer geht mit mir? Es ist offen, wunderbar offen, drohend offen.
So wird mir heute eine Dennoch-Urkunde verliehen, die mir sagt: Mach einen neuen Versuch. Verlier nicht den Mut, wo doch das Erschrecken über »den Menschen« zugleich ein Erschrecken über dich selbst wird, der du zufällig, ganz zufällig nicht auf dem Balkan oder im Kaukasus wohnst. Wie steht es um den Welt-Frieden in dir? Wie dünn ist die Haut deiner Friedfertigkeit? Wie lange hältst du den anderen aus, du, ich, mit dem Kainsmal Gezeichneter?
»Nenne mir ein Verbrechen, das ich nicht auch hätte begehen können!«
Kain, der Mensch mit verfinstertem Blick, der Andersartigkeit nicht erträgt, Ausschließlichkeit beansprucht, den Anruf nicht hört, Antwort und Verantwortung verweigert, Fürsorge abweist. Unstet ist er, in sich zerworfen. Am Anfang, erste Tat außerhalb des Paradieses - ein Mord und nicht nur dies: Verweigerung der Antwort. An unserem Ende könnte die Zerstörung des Paradieses »Erde« stehen, des Gartens, von dem wir leben. Dennoch: Wort-Antwort-Verantwortungswesen sind wir.
Am Anfang steht nichts anderes als ein gesenkter Blick, der zum bösen wird. Den anderen nicht mehr ansehen, sich in sich selbst verkrümmen, das Gesicht des anderen, des Menschenbruders, der Menschenschwester, nicht mehr sehen, den Zorn in sich wachsen und wuchern lassen, die inneren Spannungen und äußeren Verletzungen auf ihn konzentrieren, um dann, nicht mehr Herr im eigenen Hause, zuzuschlagen und im selben Moment noch die Verantwortung für die Tat abweisen - das ist unser wiederkehrendes Schicksal, von dem wir uns befreien können, wenn wir rechtzeitig aufsehen, im Gesicht des anderen uns selber entdecken, auch in der Fratze des anderen, die aus Angst Angst macht, aus Wut Gewalt werden lässt, aus Verletzung verletzt, aus Ungerechtigkeitsgefühl ungerecht wird, sich Gerechtigkeit »holt«. Wo wir im anderen uns selbst - mit all unseren Schatten - wiederentdecken, können wir es lernen, Differenz zu ertragen, einander leben zu lassen!
Es ist nicht einfach das Verdienst des Opfers, Opfer zu sein, doch Opfer verdienen all unsere Fürsorge und Vorsorge.
Unversehens verwandeln sich Opfer in Täter, werden vom Abel zum Kain. Auch Kain muss geschützt werden, damit er nicht - selber zum Opfer gemacht - nur noch Kinder zurücklässt, die Kainskinder sind: Gezeichnete. Doch Kain und seine Kinder bedürfen der Einsicht in das, was sie ausgelöst, angerichtet, hinterlassen haben.
So meinten Antifaschisten, der Ermordung Entronnene, auf Dauer einen Bonus zu besitzen, der sie berechtigte, Menschenrechte zu verletzen, weil sie selbst schrecklich Verletzte gewesen waren. Sie meinten Feinde »liquidieren« zu dürfen, weil sie selbst von Liquidation bedroht gewesen waren.
Schwerstes und riskantestes Unterfangen: Gnade für Kain, damit er nicht auf sein Kainsein reduziert wird. Und die Aufgabe der Nachkommen Abels ist, nicht die Rollen zu wechseln. Gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, dass Kain nicht weitermacht.
Unbestechliche lebten und leben mitten unter uns, Menschen, die sich nicht zu Tätern machen lassen, durch nichts und niemand. Viele, die sich rächen könnten, vergessen nicht, was es hieß, ein Opfer zu sein. Sie sind die Hoffnung des Friedens. Wie schnell wird andererseits unter der Zunge, unter der Hand der Zorn dessen, der sich gerecht wähnt, zu Unrecht, zur Untat. Aus Vor-Wurf wird flugs der erste Stein. Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe. Wie nah kommen sich alsbald individuelle Tragik, persönliche Rivalität und gesellschaftliches Verbrechen!
Wer Opfer wurde, ist deshalb nicht schon besser als der Täter - oft wurde er nur davor bewahrt, Täter zu werden, weil er nicht konnte.
Wir erleben es - und ich sage das sehr zögernd, ohne den Richtfinger - wie auch Moslems so werden können wie die Serben, die wie Kroaten von damals wurden. Wir lassen uns polarisieren. Wir sagen zu leicht: DIE Serben, DIE Kroaten, DIE Moslems. Wir teilen ein, verstärken die Fronten durch Einteilungen, die tödlich werden. Unsere Erschütterung und unsere Ohnmacht verleitet dazu, aus Mitgefühl Machtmittel einzusetzen, unsererseits dreinzuschlagen, damit endlich Friede wird. Die Vereinten Nationen finden nicht die Kraft, den Krieg auszutrocknen. Die friedlichen Mittel werden nicht ausgeschöpft. Die Waffenhändler sind unter uns. (Deutschland ist der drittgrößte Waffenexporteur.) Wenn uns die Mittel des Friedens zu teuer werden, werden wir an den Mitteln des Krieges zugrunde gehen. Was wir an zivilem Einsatz versäumt haben, werden wir nicht durch kriegerischen gutmachen können. Deshalb plädiere ich für ein Friedenskorps, einen internationalen Zivildienst. Gewalt muss wirklich ultima ultima ratio bleiben.
Was heute im Fernseh-Rückblick auf martialische Rituale der DDR nahezu operettenhaft-komisch erscheint, war angst-disziplinierende Realität, perfekt von verführten Überzeugungstätern inszeniert. Auch bei uns hätte im Herbst '89 ein Funke genügt, um destruktiven Selbstlauf von Hass und Gewalt auszulösen. Wir wurden verschont. Nach allem, was zu befürchten war, kam dies einem Wunder gleich. Was wir da erfahren durften, werteten wir auch als Ergebnis längerer »Graswurzelarbeit des Friedens«, in der bestimmte Haltungen Wurzeln geschlagen haben, die wir auf der vereinten deutschen Wiese nicht ausreißen (lassen) wollen. Erinnerung tut not und tut gut, wenn sie nicht verklärt, aber uns erklärt, was war, was mit uns war, was aus uns werden kann.
Wenn ich das auf eine Formel bringen wollte, könnte ich sagen, wir wollten lieber Jona als Kassandra sein, lieber belächelt werden, weil wir eine falsche böse Voraussage gemacht haben, eben weil die Leute gehört haben. Es ist furchtbar, als Kassandra Recht haben zu wollen.
Lieber Jona als Kassandra wollten wir sein und haben vieles gesagt und gewagt, getan und verweigert, erbeten und gefordert, erträumt und erprobt, was von den einfallslosen Realisten der Macht als utopisch belächelt, von blindwütigen Ideologen kriminalisiert, von den bestallten Verwaltern des Status quo als naiv abgetan wurde. Und wir waren naiv, utopisch, machten uns lächerlich, wurden lächerlich gemacht, wirkten subversiv, störend auch für die große Mehrheit eingeduckter Mitbürger. Wir hatten teil an Irrtümern, litten an Selbstüberschätzung und hausgemachtem Unfrieden. Wir aßen stets mit Judas. Wir verbissen uns in unsere Feinde. Wir lebten im täglichen, gegenseitig nadelstichigen Kleinkampf mit dem übermächtigen Apparat. Es waren kleine Minderheiten, die opponierten, mitten in einer stimmlos-stummen Mehrheit. Leicht zählbar waren die Gegner des Stendaler Atomkraftwerks oder die Umweltschützer gegen den Braunkohlenhöllenschlund von Espenhain, die Initiatoren der »persönlichen Friedensverträge« oder die Gruppen der europäischen Friedenswanderungen durch Mecklenburg. Wenige tausend Flanellaufnäher mit dem alten Prophetenwort und neuerem sowjetischen Denkmal auf Jacken genäht, gegenüber den hunderttausendfach gedruckten, geklebten, offiziellen Aufklebern »Frieden schaffen gegen Natowaffen«. Ein, zwei Dutzend beim Friedensfrühstück in Jena oder beim Friedensspaziergang in Wittenberg, doch schon tausend bei nächtlichen Hammerschlägen unter Luthers Wohnstube, vor einem Quellwasser, zehn Jahre zurück nun, bei friedlichem Gesang:
Ein jeder braucht sein Brot sein Wein und Frieden ohne Furcht soll sein.
Pflugscharen schmelzt aus Gewehren und Kanonen, dass wir in Frieden beisammen wohnen.
(Dieter Trautwein)
Tränen der Anrührung, Traum der Erfüllung, List und Lust des Widerstands. (Herr Bundespräsident, Sie haben das in einer wunderbaren Weise nachvollziehen können, was wir damals wollten!) Dann wieder am Tag das kleine einzelne, aus selbstverantworteter Einsicht kommende NEIN gegen die vielen JA's organisierter Verlogenheit und verlogener Organisationen.
Je weniger Überzeugungskraft das System hatte, desto mehr proklamierte es Schutzbedürftigkeit. Die forcierte Militarisierung war die Antwort auf fortschreitenden Plausibilitätsverlust.
Gegen die fettgedruckte Propaganda in der Einheitspresse des SED-Blocks stand die kleine spielerische Zeile im Schaukasten: »Wir lieben unser Land. Grenzenlos.« Einfache Verse erfüllten unser Inneres, gaben Grundorientierung in schwierigen Entscheidungsfragen. Sie halfen, vereinfachenden Parolen nicht zu folgen. Die Poesie des Friedens hat uns begleitet, beschwingt, orientiert. So auch der epigrammatische Text des Jugoslawen Zvonko Plepelic:
Zeug das Kind Pflanz den Baum Bau das Haus Zerbrich das Gewehr Und
Sag es weiter
Tu! Das Tun geht voraus, das Weitersagen ist der zweite Schritt, aber beides hängt zusammen.
Herausgestrichene Zeilen aus den Frankfurter Vorlesungen der Christa Wolf offenbarten, wo die Achillesferse war: im Offenlegen der Absurditäten. »Wem soll man sagen, dass es die moderne Industriegesellschaft, Götze und Fetisch aller Regierungen, in ihrer absurden Ausprägung selber ist, die sich gegen ihre Erbauer, Nutzer und Verteidiger richtet: wer könnte das ändern. Der Wahnsinn geht mir nachts an die Kehle.«
Wenn der Friede die »Lebensbedingung des technischen Zeitalters« war, mussten wir uns fragen, ob es überhaupt noch ein Ziel geben könne, das den Einsatz der Vernichtungswaffen
rechtfertigen dürfte und ob es dann überhaupt noch einen »gerechten Krieg« gäbe. Kritische Reflexionen auf frühere kirchliche Kriegssanktionierung führte uns zusammen mit Friedensbewegten anderer Grundanschauungen und Länder. Vor allem Schriftsteller wurden Verbündete, durchbrachen die mit Macht gehüteten Tabus, leiteten den Dialog der Vernunft ein. So Stephan Hermlin mit seiner »Begegnung zur Friedensförderung« im Dezember 1981. Der Weg führte uns in einem breiten konfessionsübergreifenden Diskussionsprozess bis zum Abschluss der
»Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« in Dresden (April 1989). Dort gelang es uns, die Binnenperspektive mit der Weltperspektive ebenso zu verbinden wie die Anforderungen an Selbstveränderung mit Aufgaben der Weltveränderung. Was damals angestoßen wurde, steht weithin aus und weiter an. Was bleibt? Diese zwölf Texte, fortgeschrieben nach erfolgter politischer Demokratisierung!
»The Day After« wurde bei uns der 10. Oktober 1989. Da fiel in der Angst-Nacht keine Bombe, da fiel kein Schuss - da begann ein bankrottes Gewaltsystem sich gewaltlos zu verabschieden. Weil in jener Nacht Gewalt ausblieb, war der Weg zur Demokratie frei. Dieser 9.Oktober 1989 ist ein Tag, den Ostdeutsche in die friedliche deutsche Demokratisierungsgeschichte eingebracht haben. Doch wurde er der gesamtdeutschen Vergesslichkeit überantwortet, um dann alles - ob Fahne, Hymne und Verfassung, ob Parteienstaat, Rechtssystem und Wirtschaftsordnung - auf unsere vierzigjährig umgestülpte Ordnung zu übertragen. »Was sich bewährt hat, hat sich bewährt.« Dem Tag eines Rechtsakts von Regierungen, über den ich nicht unglücklich bin, nicht aber dem Geschichtstag couragierten Bürgersinns ließ man die Ehre des Nationalfeiertages angedeihen. In einer wunderbar kontrastierenden Korrespondenz zum gestrichenen 17.Juni 1953 steht der 9.Oktober 1989. Dass nichts bleibt, was wir waren?
Die Mauer fiel. Durch die deutsche Hauptstadt bleibt länger noch ein Riss. Wir Ostdeutschen haben nicht nur von unserem »Ährenkranz« gelassen; wir wurden und werden völlig gerupft. Viel war nicht da, zugegeben.
Der Bonner Republik fällt es schwer, sich von Bonn zu lösen, real und symbolisch. Die ost-westliche Schieflage würde zementiert, wenn der Schwerpunkt am Rhein bliebe. In Berlin müssten wir allerdings zeigen, dass wir unserer Geschichte nicht ausweichen und alte Gespenster in ihren Gräbern ruhen lassen, dass deutsche Kultur und Multi-Kultur sich befruchten können, dass die große Bundeshauptstadt etwas anderes ist und bleibt als eine Reichs-Hauptstadt. Und schließlich wird Berlin »Werkstatt der Einheit«, wenn sich Regierung, Parlamentarier und Beamte dazu entschließen, ein wenig von der Mühseligkeit des Alltags der (Ost-)Berliner auf sich zu nehmen. Der Abstand zwischen »den« Politikern und »dem« Volk wird in dem Maße geringer, wie erstere Anteil haben am Geschick derer, die verräterisch »Normalbürger« genannt werden. Berlin auf dem Wege zur »Hauptstadt der deutschen Einheit« setzte ein Signal, wenn es von Anfang an eine bescheidene Hauptstadt würde.
Aus Berlin kam der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, dessen Grund-Sätze mit Mehrheit weggewischt wurden. Mit Verweis auf das - sicher bewährte, aber doch nicht festgeschriebene, sondern fortzuschreibende - Grundgesetz wurde dieses »Wende-Produkt« zur Verfassungslyrik erklärt. Auch das gehört zu den lang- und tiefwirkenden Kränkungen derer, die unverdrossen am »Haus der Demokratie« gebaut hatten und sich gern in ein vereintes »neues Deutschland« einbrächten. Wiederum überstimmt, ziehen sich viele, deren Stimmen wir brauchten, wieder zurück.
Nicht wenigen von uns ist immer noch schwer begreiflich, warum nichts bleiben konnte, was uns Ostdeutsche doch auch ausmachte neben allem Verkehrten und Verqueren. Warum wir nicht ein gemeinsames Drittes suchten - nicht den dritten Weg! -, sondern ausschließlich auf altbekanntes, westwärts Etabliertes zurückgriffen, bleibt uns unverständlich. Verpasste Chance.
Hätte es uns beispielsweise für unser Selbstverständnis und unsere Selbstverständigung nicht gut angestanden, wenn wir im Tenor der Bescheidenheit unsere Hymne gesungen hätten! Ich höre es immer noch von der ersten Strophe auf die dritte herüberdröhnen, zumal dann, wenn Deutsche zu viel getrunken haben. Wie anders ist der Gestus eines toleranten Selbstverständnisses, einer die anderen respektierenden Vater-Mutter-Landsliebe in einfachsten Zeilen:
Und nicht über und nicht unter
andern Völkern wolln wir sein -
also weder Herren noch Knechte, sondern Freie, die ihr Land lieben, so wie die anderen Völker ihrs.
Da verschwistert sich die Liebe fürs Eigene mit der Toleranz fürs Andere, Fremde. Da wird jede neue, erschreckende Größe abgewiesen und jeder Grenzrevisionismus ausgeschlossen... »von der Oder bis zum Rhein«. Stolz aufs Eigene und selbstverständliches Geltenlassen des Fremden sind hier vereint. Darin bestünde Vereinigung! Alles für immer entschieden?
Wo wir inzwischen unsere Probleme beim Zusammenleben mit Fremden weg reden, kann ein Tabu, trotz bester Absicht, gären: Freundbilderwirken wie Feindbilder: verzerrend, konfliktverschärfend. Es muss aussprechbar sein, was uns an Fremden fremd ist, was uns stört und auch Angst macht, ohne gleich als »fremdenfeindlich« etikettiert zu werden. Es muss klärbar sein, was wir uns gegenseitig zumuten können, damit nicht das aufkommt, was wir verhindern wollen.
Öffentliche Worte werden Signale für Gewalt oder für Verständigung, für Abschottung oder Öffnung, für Hilfe oder für Vertreibung. Achten wir sehr genau auf unsere Sprache, prüfen wir uns und andere, was bei uns mitschwingt, - damit nicht indirekte Brandsätze zu direkten Brandsätzen ermuntern.
Dabei ist die Würde des Menschen, jedes Menschen unantastbar. Wo ein Haus mit Menschen angezündet wird, brennt auch unser Grundgesetz, verbrennt die Würde. Merkt Herr Biedermann nicht, was die Brandstifter uns antun? - Wo doch auch die anderen Öfen noch zu besichtigen sind!
Wo Probleme aber zum verkaufsträchtigen sensationslüsternen Skandalanlass missbraucht werden, wirkt das so abschreckend wie ansteckend. Glücklicherweise gibt es viele Jahre, ganz unspektakulär gelingend, das Mit- und Nebeneinander von Deutschen und Nichtdeutschen in unserem Land, auch im Osten! Normalität scheint nicht nachrichtenwürdig. Insofern verzerrt die notwendige Nachricht über (Gewalt-)Konflikte die eigentlich genauso berichtenswerte Normalität.
Bei unserer deutsch-nationalen Vorgeschichte nimmt es nicht wunder, dass wir zwischen Verharmlosung und Dramatisierung schwer das richtige Maß finden können. Wir Deutschen müssten uns indes eher vor Verharmlosung hüten. Gleichzeitig gilt es, unsere Toleranzkräfte zu mobilisieren, statt vorzeitig vor der Wiederkehr alter Muster zu resignieren. Wer die Lage heute mit der vor sechzig Jahren vergleicht, mag mit guten Gründen zu dem Schluss kommen, dass wir gelernt haben und keinesfalls dazu verdammt sind, unsere Schrecken zu wiederholen. Wer aber vorgestrige Muster variiert, kann auf keiner Ebene unser Repräsentant sein wollen.
Wir setzten wieder alles aufs Spiel, wenn wir dem Geist, der Logik und der Praxis der Abschottung nicht widerstehen. Die Öffnung zueinander schließt Respektierung unterschiedlicher Identitäten nicht aus, sondern gerade ein. Integration kann ohne Verwischung der Unterschiede und Interessenlagen gelingen. Gerade der Schutz der Fremden und der Minderheiten gehört zu den immer wieder gefährdeten menschlichen Kulturleistungen.
Unsere Sprache mit ihren vorurteilsgesättigten Redewendungen verrät uns nicht nur; sie wird der Nährboden für Ausgrenzung und Gewalt.
Wir im Osten spüren Langzeitwirkungen der Sprache der Verfeindung, die Spätfolgen der jahrzehntelangen Entwürdigung, der Diffamierung des Dialogs unter der Überschrift »es gibt keine ideologische Koexistenz«. Das hieß praktisch, dass es nur die eine von den Siegern der Geschichte für allmächtig erklärte Wahrheit gibt. Wer eine Rede des Chefs des Orwellschen Wahrheitsministeriums Erich Mielke hört, spürt psychisch, wie Sprache geradezu zum Maschinengewehr wird, weil sie bloß noch dazu gebraucht wird, überall »die Feinde« zu liquidieren. Wer vierzig Jahre in einem solchen System gelebt hat, mittuend oder erduldend eingebunden war, in dem hat sich viel Hass angesammelt und dem steht noch ein längerer Weg innerer Entfeindung bevor.
Nun haben auch wir Demokratie als eine jedermann angebotene Möglichkeit, für widerstreitende politische Richtungen und ökonomische Interessen so zu wirken, dass wir dabei nicht nur einander leben lassen, sondern jedem sein Recht zukommen lassen, das nur von den Rechten des anderen begrenzt ist.
Wer mehr will, will keine Demokratie. Wer an den Mühen der Demokratie vorzeitig resigniert, gibt Demokratie vorzeitig auf.
Was uns allerdings bisweilen aus Parlamenten vor leerem Saal, aber laufenden Kameras rübergebracht wird, scheint die zu Protokoll gegebene, gegenseitig vorgewiesene Fähigkeit zu sein, die Abschlachtsprache zu beherrschen, wobei beidseitig-gleichzeitig wortreich »Sachlichkeit« angemahnt wird.
Wir wollten im Herbst '89 eine liberale und soziale Demokratie. Bürger aus allen Berufen hatten sich plötzlich ohne jede Erfahrung ins politische Geschäft drängen lassen oder gedrängt. Sie alle haben wohlgemut eine Karre angepackt, die tief im Dreck steckte.
Aufs Äußerste haben sich viele gefordert und überforderten sich, waren bald dem Spott preisgegeben, auch von solchen, die klug beiseite blieben oder gar von denen, die die Karre dahin gefahren hatten. Wie viele haben sich inzwischen verschlissen oder sind verschlissen worden! Mancher merkte erst zu spät, dass er sich übernommen hatte. Doch wo bleiben die, die den Forderungen gewachsen wären? Ist nicht jeder zunächst unseres Respekts würdig, der zupackte, sich beherzt für das Gemeinwohl einsetzte, statt selbst-klug-gewandt und gewendet zuzusehen, wie unter DM-Bedingungen dem Eigen wohl am besten zu dienen wäre? Das inzwischen massenhaft-hämische Besserwissen der Nichtstuer, das kluge Kommentieren derer, die sich aus der praktischen Gestaltung unseres Gemeinwesens heraushalten, das mäklige Sichzurückziehen derer, die die richtige Lösung in der Tasche haben, doch in ihrer Tasche behalten, das wohlfeil gewordene - so berechtigte wie pauschale - Schimpfen auf »die Parteien«, ohne ihnen selber zu zeigen, wie man's anders und besser macht - das alles wird zur teilnahmslosen Totengräbergemeinde unserer Demokratie; sie lebt von denen, die sich in den Streit um die bessere Lösung begeben, sie stirbt an denen, die sie sich selbst und damit den Machtmenschen überlassen. Gewissermaßen als demokratieertüchtigenden Hausflurspruch wünschte ich uns allen das Jefferson-Wort: »Frage nicht nur, was dein Land für dich tut, sondern frage auch, was du für dein Land tun kannst.«
Obwohl wir in mancher Hinsicht inzwischen vereint sind, sind wir Ostdeutschen in einer etwas schwierigeren Demokratieübung, weil sich vertikales Denken - nach langer deutscher Tradition - nun noch in zwei Diktaturen nacheinander verfestigt hat. Da meint man, dass alles Gute wie alles Böse »von oben« kommen muss. Das führt stets zur Delegierung von Verantwortung nach oben und zeigt sich rückwärts in der Selbstrechtfertigung massenhaften Mitläufertums, das durchaus in mehr oder weniger beflissener Mittäterschaft bestand. Der Kampf um Demokratie muss der tägliche Kampf gegen den Spruch sein: »Man kann sowieso nichts machen«. Die Folge solcher Kleinmutsweisheit ist, dass man nichts macht. Mancher versucht einmal etwas, findet nicht genug Gehör, findet nicht genug Mitstreiter, findet im Streit nicht genügend Zustimmung und zieht sich alsbald wieder zurück und lässt »die da oben machen«, um weiter kritisieren zu können. So verwandelt sich dann politisches Denken in Stimmung. Manche Politiker meinen nun, dass es am besten sei, solchen Stimmungen oder anderem allgemeinen Volksempfinden nachzugehen und nachzugeben, statt sich nach den Ursachen zu fragen und jeder irrational-nationalen Entladung, noch dazu auf altbekannte Sündenböcke, zu widerstehen.
Die graue Trennungsmauer ist zerbröselt. Die Mauerbauer sind schmählich abgedankt und mählich abgestraft. Der antifaschistische Schutzwall ist mit der Einheit gefallen. Sollte nun die Neuordnung Europas mittels Einordnung unserer Geschichtsurteile allmählich wieder beginnen? Sollte ein in der ummauerten Provinz überwintertes nationales Volksempfinden gesamtdeutsch wieder salonfähig werden? Sollte aus den Tälern deutscher Ahnungslosigkeit eine abständige Vorgesternantwort die angemessene Reaktion auf drängende Übermorgenfragen sein? Wenn historischer Revisionismus einen politischen nach sich zöge, dann Gnade unserem Kontinent!
Mit Sorge und Respekt zugleich sehe ich die Abrieb- und Zerreibungsprozesse bei denen, die sich ins politische Geschäft begeben. Ich weiß um alte Probleme im neuen Gewand, auch um die Abgründe, die sich auftaten, nachdem der Aufbruch gelungen schien. Mich beunruhigt der Unfrieden in der Freiheit nach dem Zwangsfrieden in der Diktatur, auch die wütende Fremdentlastungs- wie die schale Selbstrechtfertigungspose.
Die alten Beschädigungen reichen tief, neue sind hinzugekommen. Den Demütigungen in der Diktatur folgten alsbald die Demütigungen in der Freiheit. Den Wettbewerbsbedingungen des Westens waren wir nicht gewachsen. Die rechtmäßigen Eigentumsregelungen brachten und bringen viel Bitternis. Der Aufbruch mündete für Hunderttausende in einen Abbruch. Es gab Auffang- und Aufbauprogramme. Aber der große Aufschwung blieb aus. Das Land wurde farbenfroher - und wurde so erst seines maroden Zustandes gewahr. Auch Erhaltbares wurde plattkonkurriert, ausgeschlachtet, scheinprivatisiert. Der Westen versuchte, dem Osten schnell zu zeigen, »wie man's macht« - da kam der »Wessi« auf, dem der »Ossi« sein Los vorjammerte, bis er ihn als »Besserwessi« erkannte und bald alle als solche brandmarkte. Da waren diese nun enttäuscht oder beleidigt, weil nicht mehr zwischen gerissenen Absahnern und unersetzlichen Fachleuten, einsatzbereiten Idealisten und mittelmäßigen Karrieristen unterschieden wurde. Da hatten wir unsere schöne Teilung wieder - mitten in der Einheit.
Wer wollte übersehen, wie sich das Gesicht der Menschen, ja unserer Städte und Dörfer erhellt hat, wie Ostdeutsche ihre Begabungen entdecken und entfalten können. Und wer wollte regierungsamtlich wieder gutreden, was schlechter läuft als es brauchte, weil viel Kompetenz und Potenz brachliegt. Wir haben da Erinnerungen, die überempfindlich machen bei jedwedem Partei-Bonzen-Macht-Gebaren und herzloser Ministerialbürokratie. Da kommt es zu schnellen, zu zu schnellen Gleichsetzungen.
Unser Denken und Empfinden, unsere Vorstellungen und unsere Sprache, - nicht nur das der einst »überzeugten DDR-Bürger«! - wurden anders geprägt, viel nachhaltiger, als wir das 1989 beim plötzlichen Befreiungsschlag und 1990 beim hastigen Vereinigungsakt dachten. Das offizielle gesellschaftliche Klima der DDR war verkrampfend, schuf die Friedhofsruhe struktureller Gewalt und verlogener massenhafter Zustimmungsrituale, versuchte Menschen ihrer Individualität zu berauben und ihr Denken in eine geschlossene Ideologie mit bipolarem Denken einzupferchen. Mundtot gemacht, ihrer Würde beraubt, zu Kriechern degradiert, zu Ja-sagern dressiert, zu einem »wissenschaftlichen« Glauben verführt, zu Schweigern erzogen, haben sich dieselben Menschen schließlich selbst aufgemacht, sind aufgestanden, haben Mut zu sich gefasst und den Mut, etwas - sich! - zu riskieren. Solch endlich aufgeweckter Bürgersinn, der Gewalt widerstehend, bleibt nötig, darf nicht erlöschen, zumal zu häufig die tapferen Schweiger von gestern neue Schweigegebote vorauseilend einhalten, so behände buckeln wie treten, Mitläufer und Mittelmäßige sich geschickt in den Wind drehen, neue Parolen eifrig lernen, das institutionelle Ebenendenken peinlich einhalten, Privilegien mit bestem demokratischem Gewissen genießen und bürokratisches Machtgebaren in rechtsstaatlicher Diffizilität erst richtig ausleben und auf diese Weise die endlich errungene Demokratie beschädigen.
Passt auf, liebe Mitbürger!
Der Selbstfindungs- und Neuorientierungsprozess wird langwieriger sein und wird uns noch viele innere Differenzen offenbaren. Gegenseitiges Missverstehen wird noch länger schmerzen. Da ist es schon wunderbar, dass schon so viel glückt, dass schon so viel Durchmischung gelingt, dass so viel innerstes Mitverstehen bei allem Abstand gewachsen ist, dass so viel echte Hilfe kommt, verfallene Städte wieder erblühen, und gleichzeitig muss ich fragen, wer das bezahlen kann, wer dort wird wohnen können. Die Schere darf nicht zu groß werden.
Was uns vielfach als Larmoyanz- und Nostalgievorwurf begegnet, ist mir nüchterne Einsicht geworden: Noch immer leben wir Ostdeutschen stark mit und in der Vergangenheit, zehren bisweilen von diesen gewiss schwierigen Jahrzehnten - mit ihren mühsam gewonnenen Erkenntnissen, ihren verlorenen Hoffnungen (genau in einem Moment, in dem soviel Anfang war!). Aus den schnell aufeinanderfolgenden emotionalen Wechselbädern resultieren manche unserer Empfindlichkeiten. »Wir sollten doch endlich umlernen«, sagen uns häufig Westdeutsche, die selber nichts dazulernen zu müssen meinen. Das ergibt Ver-Stimmung und unnötigen Trotz.
Der Selbstbetrug - ich werfe das niemand anderem vor, das muss jeder sich fragen - über Länge und Schwere des Weges zueinander mündet vielfach in das altbekannt-deutsche Gemisch aus Selbstmitleid und Selbstüberhebung.
Dabei lassen sich die Vereinigungshürden nehmen, wenn man die Latte ostwärts nicht gleich so hoch legt und wenn man sie westwärts etwas niedriger zu legen bereit ist - das ist für beide Teile schwer -, oder gar die gesamte Bemessung ändert, lebensverträglicher justiert, für uns und die nächsten Generationen: sozialverträglicher, naturverträglicher, friedensverträglicher.
Und verspielen wir das Geschenk der Vereinigung nicht im Gezänk nach rückwärts! Auch wenn wir Deutschen in den vierzig Teilungsjahren - mit Bedacht oder mit Berechnung - sehr unterschiedliche Wege für richtig hielten, ist es nach der äußeren Vereinigung entscheidend, unsere gegenseitigen Verflechtungen und Verfehlungen im damaligen Kontext wahrzunehmen, ohne Verantwortlichkeiten zu verwischen. Die nun gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben sind beherzt anzupacken. Dabei ist keiner prinzipiell auszuschließen, der mit seiner Begabung die vereinigte demokratische deutsche Republik mitgestalten will.
Nachdem wir der befürchteten Härte von Gewalt und Gegengewalt im gnädig-milden Herbst und Winter der Jahre 89/90 entronnen sind, geht es nun darum, auch unsere Gefühle allmählich zu enthärten, besonders wenn wir zurücksehen auf vermauerte Jahre und auf die sehen, die mit gefühlloser Härte gegen uns vorgingen.
Wer sich jahrelang der Mühe der Entfeindung unterzogen hat, indem er dem Gegner nicht alles Böse unterstellte und sich selbst nicht alles Gute zurechnete, der steht vor der nicht leichten Aufgabe, diese Mühe zu vollenden durch den Verzicht, den Sieg über den damaligen Gegner auszukosten. Man sollte den, der am Boden liegt, nicht noch treten, sondern ihm aufhelfen, ihm seine Würde zurückgeben, ihn nicht auf sein Unterlegensein reduzieren. Das Risiko ist nicht gering, dass Skrupellose Großherzigkeit schamlos ausnutzen. Trotzdem! Um der vielen anderen willen ist dieses Risiko gerechtfertigt.
Nach einem friedlichen Umbruch wird man inneren Frieden am besten erreichen, wenn man sich auch in die Lage der Unterlegenen hineinversetzt:
Wer von den Fesseln ideologischer Verblendung befreit wurde und gleichzeitig von dem lassen musste, was ihm geradezu als unumstößlich galt, von der Macht seiner Wahrheit und der Wahrheit seiner Macht nämlich, der vermag nicht sofort klar zu sehen, sich frei zu bewegen, seine Sprache mitsamt seinem Gebaren zu entrümpeln. Wir anderen aber sollten wissen: Auch Antiideologie ist Ideologie, die verblendet. Zudem frage ich uns: Muten wir uns denn zu, klar zu sehen? Immer noch wohlstandsbetört, verschließen wir die Augen vor Bevölkerungsexplosionen und heraufziehendem Weltelend, vor den Folgen des Welthandeldiktates der Reichen, vor politischen Einbrüchen, technischen und ökologischen Katastrophen. Die Folgen unserer Freiheit sind längst zu Ursachen unserer Un-Freiheit geworden. Unsere Macht wird zur Ursache selbstzerstörerischer Ohnmacht. Gewonnene Freiheit wird unversehens zur Fiktion, wo sie nicht mehr von einer Vision gefüllt wird, aus der selbstverantwortetes Handeln folgt und längeren Atem gewinnt. Wir kommen unter die Fuchtel von Gralshütern der Realität, die uns die Schwingen jeglicher Utopie zu kappen suchen.
Der Sozialismus hat der Menschheit unter vielen Opfern und jäh enttäuschten Hoffnungen doch einen nicht zu unterschätzenden Dienst erwiesen: Er hat gezeigt, was nicht geht. Nun ist es an uns, zu zeigen, was geht, nicht zu zeigen, dass nichts geht. Darum kann es jetzt nicht um die Diffamierung jeder Utopie gehen, sondern um eine verantwortungsgeläuterte Utopie, die uns einen Weg weist, ohne falsche Versprechungen zu machen, uns aber mit einer orientierenden Perspektive leben lässt.
Zwei Probleme werden unseren Frieden unmittelbar tangieren: die gerechte Verteilung der Arbeit und die Suche nach einem gerechten Frieden.
Arbeit als anerkanntes Teilhabenkönnen am gesellschaftlichen Lebensprozess ist wesentlicher Teil inneren Friedens. Das ist, glaube ich, noch nicht genügend Allgemeingut. Es geht um mehr als um finanziellen Ausgleich im Sozialstaat. Arbeit ist auch eine Art, uns zu entfalten, aber auch uns selber »in Schach« zu halten, destruktive Antriebe in konstruktive Anstrengung zu lenken. Arbeit als eine gemeinsame sinnerfüllte, wenngleich anstrengende Tätigkeit hilft uns, menschlicher zu werden, wenn sie sich menschliche Ziele setzt.
Durch unsere Gesellschaft geht ein Riss, der trotz unseres noch so großen Wohlstands die gesellschaftlichen Beziehungen belastet. Hunderttausende fühlen sich nicht mehr gefragt, vereinsamen, bekommen Selbstwertprobleme, verkriechen sich, bauen sich Schuldige auf, werden schließlich für Feindbild- und Sündenbockparolen empfänglich. Arbeitslose werden allmählich zu Erwartungslosen. Doch untätiges Klagen hilft nichts. Innovation, Bereitschaft zum Umlernen braucht unsere hochmobile Gesellschaft.
Indes hatte der Planungs- und Versorgungsstaat viele Menschen zur Initiativlosigkeit erzogen und hinterlässt viele mit einer gewissen strukturellen Hilflosigkeit. Nun ist Initiative, Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfähigkeit zusammen mit Kompetenz und Wendigkeit gefragt. Viele haben sich dem erfolgreich gestellt, aber zu viele sind durchs Netz gefallen.
Arbeit zu teilen wird zu einem humanen Gebot, es sei denn, wir ordnen den Menschen ganz und gar Effizienzkriterien unter. Solches Arbeit-Teilen wird nicht bei vollem Lohnausgleich möglich sein. Lassen sich die extremen Einkommensdifferenzen nicht vermindern? Eine Gesellschaft, die sich tendenziell in Arme und Reiche spaltet, wird für sich selbst gefährlich. Der notwendige Sparkurs darf nicht zuerst und zumeist die Ärmeren und Schwächeren treffen. Eine Konkurrenzgesellschaft ohne ein entwickeltes Solidaritätsgefühl, ein Sozialstaat, der Absahnern nicht beizukommen vermag, führt zur Verhärtung der menschlichen Beziehungen.
Die hunderttausendfach aus dem Arbeitsprozess herauskatapultierten (Ost-)Deutschen fühlen sich unversehens aus dem Lebensprozess herauskatapultiert, verbittern, verbiestern sich. Wer vorzeitig rausgesetzt ist, hat es nach aller Erfahrung schwer, sich noch irgendwo einzusetzen. Er wird anfällig für Parolen vereinfachender Schuldzuweisung und gehört zum Potential politisch Unberechenbarer, die inneren Frieden und die demokratische Freiheit latent gefährden.
Durch Arbeit am Lebensprozeß teilhaben zu können, gehört offenbar zur Würde des Menschen. Wo Menschen an wirtschaftlichen Entscheidungen, die sie selbst und eine ganze Region existentiell betreffen, nicht nur nicht beteiligt werden, sondern auch im verborgenen bleibt, warum hier über sie entschieden wurde, fühlen sie sich nurmehr als Manövriermasse von Kapitalinteressen und als Objekte von Sozialpolitik. Wir haben politische Demokratisierung erreicht; die ökonomische steht aus, wo Transparenz und Rechenschaft unterbleiben. Wer verhindern will, dass Hunderttausende Mitbürger entweder in Lethargie und DDR-Nostalgie zurückfallen oder enttäuscht in den Rechtsradikalismus abdriften, muss mehr Teilungs-Gerechtigkeit herstellen.
Perspektivlos gewordene Menschen verlieren ihre Selbstachtung. Aus Depression wird weckbare und lenkbare Aggression. Das »Lied vom Teilen« besteht für sie nur noch aus Dissonanzen.
Sollten wir es nicht schaffen, unsere Arbeit so zu teilen, dass die einen sich nicht weiter kaputtschuften, während die anderen daran zerbrechen, dass sie keine Arbeit mehr finden? Das geht freilich nicht ohne Opfer, die der »kleine Mann« sicher leichter zu bringen bereit wäre, wenn »die Großen« damit anfingen.
Alle politischen Streitbegriffe, in denen mit dem Wort »Solidarität« hantiert wird, wecken Misstrauen und Widerstand, wenn sie zuvörderst Sozialabbau bedeuten. Andererseits fragen sich die vielen Arbeitslosen zunehmend, warum sich die Gewerkschaften vornehmlich der Arbeitenden annehmen und so wenig Mut bei der Suche nach mehr und anderem als Lohnzuwächsen haben.
Sozialer Friede ist ein Eckpfeiler des inneren Friedens, und innerer Friede sprach allemal und spricht auch künftig für den »Wirtschaftsstandort Deutschland«.
Innere Probleme aber - das zeigt unsere Geschichte - lassen sich nicht mit Aktionen nach außerhalb, gar mit militärischen, verdrängen. Predigten einst meine pastoralen Vorgänger Identität aus einem gemeinsamen Feldzug gegen den »Erz-Feind«, so schienen pickelhäubige Schnauzbart-Herrlichkeiten nach Verdun zu verstummen. Nach Bergen-Belsen und Auschwitz, Dresden und Hiroshima dachte man, das NIE WIEDER gelte generationenübergreifend.
Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen Als ob die alten nicht gelanget hätten:
Ich bitt euch, habet mit euch selbst Erbarmen!
Diese Zeilen, Bert Brechts Zeilen, will ich »an meine Landsleute« in Belet-Huen und Bonn richten. Was als UNO-Hilfsaktion gemeint war, ist längst zu einer hilflosen Intervention geraten - und Blauhelmsoldaten werden im Gewaltkonflikt Soldaten, Unschuldige bei Präventiv- oder Vergeltungsschlägen ihre Opfer, Wohn- und Krankenhäuser wurden zerstört. So ziehen sie Feindschaft von denen auf sich, als deren Helfer sie kamen. Schreckliche Bilder von gelynchten UNO- oder US-Soldaten mussten wir fern-sehen.
Es geht nicht um feiges Heraushalten, sondern um einen anderen Weg des »Eingreifens«. Statt mobiler Eingreiftruppen, die unter Führung der nationenbestimmenden Großmacht in den diversen Krisenherden der Welt meinen, Frieden mit modernsten Waffen schaffen zu müssen, plädiere ich für INTERNATIONALE FRIEDENSKORPS, die menschliche und fachliche Kooperation in den Konfliktgebieten suchen und einen auf Gerechtigkeit beruhenden Frieden aufbauen helfen. Das kostet viel Einsatz, viel Geld, viel Phantasie, aber gewiss viel weniger Menschenleben.
Wer helfen will, braucht mehr als Geländekenntnisse: Menschenkenntnis, Kenntnis der Kultur und Tradition der Krisengebiete, braucht kooperative und gewaltvermeidende Strategien, konzeptionelle Arbeit an der Ursachenbeseitigung.
* Einen unmittelbaren humanitären Sinn mit politischem und wirtschaftlichem Gewinn in den (bürger-)kriegsgebeutelten Ländern würde z.B. die Aufstellung von Minenräumbrigaden machen. Sogar alte NVA-Minenräumfahrzeuge könnten sofort tätig werden. (Sie haben sich bereits an der verminten deutschen Grenze bewährt.) Wenn Deutsche in besonders minenbelasteten Ländern diesen millionenfachen Schrecken mindern helfen, können sie eine ganz eigene Tapferkeit zeigen, und brauchen sich nicht den Vorwurf eines »feigen Heraushaltens« machen lassen.
* Statt nun die Lehre vom »gerechten Krieg« fortzuschreiben (dieser diffizilen, stets missbrauchbaren Legitimierung einer Gewalt, die sich Unrechtsgewalt rechtmäßig in den Weg stellen will, aber selber in die Gewalt- und Unrechtsspirale hineingerät), brauchen wir eine außerordentliche Anstrengung, um eine internationale Lehre und Praxis des »gerechten Friedens« zu entwickeln. Ist es inzwischen nicht für jedermann offensichtlich, dass es Frieden nicht ohne Gerechtigkeit gibt und dass Ungerechtigkeit eine der Hauptursachen von Krieg ist?
Im übrigen plädiere ich für die Einführung eines SOZIALEN JAHRES für alle, um zivile Tapferkeit an den Bruch- und Notstellen unserer Gesellschaft zu üben.
Ziviler Dienst muss schrittweise der Normalfall werden. So viele müssen umlernen - warum nicht das Militär, um sich für zivilen Einsatz in Friedenskorps vorzubereiten? Dafür hatten wir uns in der DDR schon ausgesprochen. Die Aufnäher waren nur das äußere Zeichen dafür.
Eine enge Kooperation der Staaten mit den zivilen Hilfsorganisationen an den Brennpunkten von Nöten und Konflikten muss in eine Friedenspolitik einmünden, die mehr ist als Interessenpolitik und die die militärische ultima ratio durch die zivile prima ratio ersetzt.
Auch ziviler Friedensdienst ist riskant und braucht gewiss keinen geringeren Mut als »friedenerzwingende Maßnahmen« durch Kampfeinsätze.
Wir geteilten Deutschen wurden nach 1945 durch unsere »Schutzmächte« davor bewahrt, einem neuen Stärkekult zu verfallen, wenngleich bestimmte deutsche Traditionen samt altem Personal reaktiviert wurden, waren wir musterschulartig den Schutzmächten des Kalten Krieges angepasst. (Besonders makaber wirkten die Zeremonien der »roten Preußen«.) Das geeinte Deutschland täte gut daran, allen Anfängen neuen Stärkekults zu wehren und nicht wieder kriegerische Ritterlichkeit, sondern konsequente zivile Tapferkeit zu suchen.
Ich möchte für ein Deutschland einstehen, das sich mit ziviler Courage nach innen eine lebendige Demokratie erhält und für ein Land, das mit zivilem Engagement seine wirtschaftliche Kraft für einen gerechten Frieden einsetzt.
Wenn Schwerter Pflugscharen werden sollen, dann meint das, dass Frieden Brot bringt.
Die prophetische Konversionsvision (Jes.2,2-5), die den Gedanken wie den Werkzeugen des Friedens gleichermaßen gilt, bleibt aktuell, bis unsere umgeschmiedeten Schwerter in der (ver-)hungernden Welt für Brot sorgen, bis wir nicht mehr lernen, wie man Kriege führt, sondern wie man Frieden erhält und wir alle - statt unsere eigensinnigen Ziele zu verfolgen - auf ein gemeinsames Ziel zugehen: die Völkerversammlung im SCHALOM.
Diese große Perspektive hat - zumal in unserer Durchsetzungs-, Distanz- und Anspruchskultur - sehr persönliche Entsprechungen. Unsere Haltungen prägen unsere Handlungen. Eine Differenz bleibt, wo Haltungen ethischen Maximen folgen, die sich nicht in bloßen Interessen erschöpfen. Aber sollten wir wegen dieser Differenz darauf verzichten?
Wo aus Übermut Sanftmut und aus Wankel-Mut ein Wandel-Mut wird, wo aus Eigen-Sinn Gemein-Sinn, aus Leid Mit-Leid, aus Hartherzigkeit Barmherzigkeit, aus Vergeltung Vergebung, aus Sorge Fürsorge, aus Vorherrschaft Partnerschaft und aus dem Geschöpf das Mitgeschöpf wird - da erst wird aus dem Menschen ein Mitmensch, das »Tier, das Zivilcourage hat« (Hilde Domin). Da wird aus unproduktiver Zerstrittenheit eine produktive Einheit. Der umgekehrte Weg mag noch so wahrscheinlich sein; Wahrscheinlichkeit ist kein ethisches Argument, sondern statistische Resignation.
Hoffnung kann sich gegen Erfahrung stellen, wo sie Bedrängnis aushält, sich in Geduld bewährt. Schließlich ist alles »Vertrauen gegen den Augenschein«, abgrund-tief, himmelhoch. Wir sind »dem bösen Ende näher« (Hans Jonas) und immer wieder am Anfang.
Es kommt schon einem Wunder gleich, wenn jahrzehntelang auf den Tod Verfeindete einen Schritt aufeinander zugehen, den niemand mehr erwarten mochte. Der Mut des Friedens ist nach allen Blutbädern weit größer als der Mut, wieder einen Krieg zu führen.
Vor den Augen aller Welt haben zwei Männer etwas gewagt. Sie taten, was keiner mehr für möglich hielt. Beide tun etwas Kühnes, gegenüber dem einstigen Todfeind, aber auch gegenüber ihren eigenen Lands- und Gefolgsleuten. Sie wissen ganz genau um den Doppelsinn dieses »den-Frieden-riskieren«. Frieden zwischen Todfeinden zu machen, ist etwas Wag-halsiges; es wagt den eigenen Hals. Es ist möglich, dass sie bald der Häme derer ausgesetzt sind, die immer schon vorher wissen, dass das alles nicht gehen kann, dass der sich ein blaues Auge holen wird, der so blauäugig ist.
Ich meine, sie verdienen unseren tiefen Respekt, bedürfen unserer Hilfe und ermuntern zur Nachahmung in anderen todbringenden Konfliktzonen.
Für Amos Oz muss dieser endlich erreichte Kompromiss etwas Beglückendes haben. Vor einem Jahr sagte er an dieser Stelle: »Ich arbeite für einen kläglichen, nüchternen, unvollkommenen Kompromiss zwischen einzelnen Menschen und Gemeinschaften, die immer getrennt und unterschiedlich sein werden, die aber gleichwohl fähig sind, ein unvollkommenes Miteinander herbeizuführen... Frieden ist nicht mehr und nicht weniger als ein gerechter und vernünftiger Kompromiss unter Gegnern.«
Wo über uns nicht mehr der Himmel von Bethlehem aufginge, aus dem der Engelsgesang des Friedens für die Erde kommt, bliebe uns nur Sorge. (Und Beth-Lehem, Haus des Brotes, liegt im Westjordanland!)
Bitten wir, hoffen wir, helfen wir, dass gelingt, was so mutig begonnen wurde. Ein grünes Signal für eine todbedrohte Welt, beruhend auf der Erkenntnis, dass »die beste Verteidigung der Abschluss eines gerechten Friedens« ist (Shimon Peres).
Was wird aus unserer Erde?
Hungernde frieren. Bomben fallen. Die Natur seufzt.
Die Saat wächst. Das Wort schlichtet. Die Hand ist ausgestreckt.
Einen Augen-Blick scheint alles gut, und alles bittet um die Gnade des Friedens, allen zugute. Haben wir ein Ohr zu hören?
Könnten wir doch hören, heißt es in Psalm 85, dass Gott Frieden zusagt,
damit wir nicht in Torheit geraten,
dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen, und unser Land seine Frucht gebe.
.... und unserer Erde Nahrung gebe, allen, allen. Könnten wir doch hören! Wir können.
Autor:Online-Redaktion |
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