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Reformationstag
Hat er oder hat er nicht …

Alle Jahre wieder – könnte man
meinen – drängt sich die Frage nach dem Corpus Delicti des Thesenanschlags auf. Aktuell stellt ein Buch den Hammer wieder in den Mittelpunkt.


Von Corinna Nitz

Am 31. Oktober 1517 muss es Martin Luther gereicht haben. Denn obwohl er seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an ausgewählte Adressaten verschickt hatte, entschloss er sich, selbige an der Tür der Wittenberger Schlosskirche zu ver-öffentlichen. Um sie zu befestigen, hätte er Siegelwachs nehmen können, entschied sich aber dann für gröberes Werkzeug. Mit dem Hammerschlag stieß er auch das Tor zu einer neuen Zeit auf. Irgendwann wurde aus der Tat nicht weniger als der Gründungsmythos des Protestantismus.
Einer, der dieses Ereignis nicht in Frage stellt, ist ein Katholik: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff. Unlängst saß er im Refektorium des Lutherhauses Wittenberg. Anlass war die Präsentation des Buches »Tatsache!« der Historiker Mirko Gutjahr und Benjamin Hasselhorn. Erschienen ist es in der Evangelischen Verlags-anstalt Leipzig, sein Untertitel lautet »Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag«. An der Echtheit dieser Tat gab es laut Haseloff, dessen Familie seit Hunderten Jahren ortsansässig sei, »in der Stadt nie Zweifel«. Im Gegenteil: »Jeder hat sich mit Luther auseinandergesetzt, selbst wenn er keiner Kirche angehörte.« Und: »Jeder, der eine Botschaft aussenden wollte, hätte sich das genauso ausgedacht.« Er hätte den Vorabend von Allerheiligen gewählt. »Wenn man hier lebt, spürt man das«, so Haseloff, der für Zweifel aus der Wissenschaftswelt zwei Worte übrig hat: Es sei »akademisches Geplänkel«.
Nun sitzen Skeptiker, so scheint’s, auch in Redaktionsstuben. Zumindest machte sich dort 2017 Unsicherheit breit, denn ausgerechnet im Jahr des Reformationsjubiläums wurde Luthers Tat wieder in den Konjunktiv gesetzt. »Soll angeschlagen haben …«.
»der Überlieferung nach …«, »vermeintlich …« Hasselhorn und Gutjahr, beide wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, nahmen u. a. diese neu aufflammende Skepsis sowie »Vorbehalte, mit der Wirkungsgeschichte zu spielen« zum Anlass für ihr Buch.
Dass sie sich der Aufarbeitung wie einem juristischen Fall genähert hätten, erklärte Gutjahr im gut besuchten Refektorium. Man kenne Täter und Tatwaffe, es ging darum, Argumente gegeneinander zu stellen. Das Problem war, dass Luther selbst nicht über den Anschlag gesprochen habe und auch »Belastungszeugen« (etwa Melanch-
thon oder Agricola) nicht ganz zuverlässig sind. Das »Schweigen der Quellen« werde von den Zweiflern vorgebracht, wobei sie nicht »die Wahrheit« dagegen stellen, sondern einen neuen Mythos.
An solche Skeptiker erinnern ihrerseits die Autoren (beispielsweise an Erwin Iserloh). Sie gehen auf gut 150 Seiten zahlreichen Fragestellungen nach und verweisen im Kapitel »Tatsache Thesenanschlag« auf einen »neuen Quellenfund«, den der Wittenberger Kirchenhistoriker Martin Treu bereits 2006 gemacht hatte. In der Universitätsbibliothek Jena stieß er auf eine entsprechende Notiz von Luthers Sekretär Georg Rörer.
Am Ende haben Gutjahr und Hasselhorn, um noch einmal das Bild vom juristischen Fall zu bemühen, etliches zusammengetragen, was man Indizienbeweise nennen könnte. Und liefern schließlich noch eine mindestens originelle Begründung für den Hammer als Tatwaffe: Der passe deshalb »so gut zu Luther, weil er mit diesem und anderen Werkzeugen andauernd Umgang hatte«. Sie begründen das u. a.
mit Luthers Funktion als Distriktsvikar, als solcher sei er auch für die Bautätigkeiten der ihm unterstellten Augustinerklöster in Sachsen zuständig gewesen.
Zurück zur Buch-Präsentation, die von Verlagsleiterin Annette Weidhas mit den Worten: »Ring frei für den Streit um die Sache, die Tatsache«, eingeleitet worden war: Gestritten wurde nicht, doch stellte gegen Ende der Veranstaltung deren Moderator, der FAZ-Journalist Reinhard Bingener, die Gretchenfrage: »Wie genau ist der 31. Oktober 1517 abgelaufen?« Wie war das Wetter? Wann ist Luther aufgestanden? Hat er selbst den Hammer geschwungen oder den Pedell losgeschickt? Ja, das ist ein bisschen polemisch, aber Hasselhorn und Gutjahr wirkten gelassen.
Ein paar Sätze blieben hängen, etwa hinsichtlich der jüngeren Wirkungsgeschichte: »Wenn man nicht mehr fragt, was Geschichte mit uns zu tun hat, bleibt es nur noch ein antiquarisches Interesse.« (Hasselhorn) Und auch ein Statement von Haseloff: Man habe auch aus Landessicht »ein politisches Interesse, dass mit diesem Buch die Debatte beendet wird«.
Noch etwas: Er vergleiche das Ganze mit Willy Brandt, der den Satz »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört« wortwörtlich so nicht gesagt hat und doch wurde er später so »tradiert«, weil er »dem Geist seiner Rede« entsprach. So kann man das natürlich auch sehen.
Apropos: Zu den Zweiflern, die den Weg ins Refektorium gefunden hatten, gehörte Volkmar Joestel. Vor einigen Jahren hatte der einstige wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in seinem Buch »Hier stehe ich!« Luthermythen untersucht. Für einen Mythos, so hieß es, sei es unerheblich, ob er einen realen Kern hat. »Er ist wahr, weil er wirkt.«

Hasselhorn, Benjamin / Gutjahr, Mirko: »Tatsache! Die Wahrheit über Luthers Thesen-
anschlag«, Evangelische Verlagsanstalt, 152 Seiten, ISBN 978-3-374-05638-5, 10 Euro
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Telefon (0 36 43) 24 61 61

Autor:

Online-Redaktion

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