Rezension
Materialermüdung: Heitere Endzeitvision mit biblischen Anleihen
Zuletzt machte Dietrich Brüggemann weniger Schlagzeilen als Regisseur denn als Corona-Kritiker. Nun erscheint der Debütroman des 46-Jährigen.
Von Paula Konersmann
Und: Sogar der verbotene Apfel kommt vor. Das erste Kapitel von Dietrich Brüggemanns Roman "Materialermüdung" heißt Vertreibung, und spätestens mit dem ersten Satz ist klar, dass das Muster der biblischen Anleihen konsequent verfolgt wird. Er ist zur Hälfte identisch mit einem Satz des Buchs der Bücher – um dann freilich ganz anders weiterzugehen: "Im Anfang war das Wort, aber welches Wort, das verrät einem keiner." – Folgt also eine Parodie, ein abgedrehter Roadtrip oder eine groteske Betrachtung zeitgenössischer Untiefen?
Der Roman bietet all das zugleich. Dass Brüggemann erzählen kann, ist keine Überraschung. Tatort-Folgen wie "Stau" oder "Murot und das Murmeltier", für die er verantwortlich zeichnet, zählen zu den eindrucksvollsten der Krimireihe; seine Komödien wie "3 Zimmer/Küche/Bad" oder zuletzt "Nö" waren Publikumserfolge.
Dass der Regisseur auch einen Bezug zu religiösen Themen hat, wurde spätestens mit seinem Drama "Kreuzweg" deutlich, das von der dargestellten Piusbruderschaft als Karikatur bezeichnet wurde, auf der Berlinale 2014 jedoch die Kritiker begeisterte.
Im gefühlten Einerlei der Coronajahre ist die Erinnerung an die Aktion #allesdichtmachen schon fast versunken: Im Frühjahr 2021 kritisierten über 50 prominente Filmschaffende die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Manche von ihnen ruderten nach Kritik zurück, andere verteidigten ihre Beteiligung an den Videoclips als Satire.
Brüggemann blieb bei seiner Position: In der "Welt" beklagte er kürzlich die zeitweilige "Diffamierung Ungeimpfter als Sozialschmarotzer und Trittbrettfahrer". Corona sei eine der "großen Erzählungen" gewesen, über die man keine Witze habe machen dürfen: "Das Thema war heilig." Darüber sei die Gesellschaft in zwei Realitäten zerfallen, schreibt Brüggemann: einerseits in jene Zeitgenossen, die einen objektiven Zusammenhang sähen zwischen einer tödlichen Pandemie und den staatlichen Maßnahmen und denen Kritiker als "dumm, unvernünftig, wahnsinnig oder bösartig" galten. Andererseits in Zeitgenossen, die übertriebene Panik für eine "autoritäre Politik" verantwortlich machten, die die Existenz vieler Menschen bedroht habe.
Die Äußerungen des Filmemachers deuten darauf hin, dass er selbst sich in letztgenannter "Realität" verortet. Zugleich, darauf verwies einmal die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", ist Brüggemann jemand, "der gerne auch in seinen Filmen auf falsche Fährten lockt und sich freut, wenn Leute empört reagieren". So verweist er selbst im "Welt"- Artikel darauf, dass er schließlich Komödiant sei – und auf die Komödie hoffe, "um die Grenzen der subjektiven Realitäten, in denen wir leben, zu hinterfragen. Sie ist damit vielleicht das einzige, was uns noch aus diesem Schlamassel herausführen und die zwei Realitäten wieder zu einer Wahrheit zusammenfügen kann" – was ja wieder versöhnlicher klingt.
Manche würden es womöglich auch so handhaben wie Maya, die weibliche Hauptgur in Brüggemanns Roman: Sie "konnte an der Welt leiden wie kaum jemand, aber wenn sie nicht litt, dann beurteilte sie alles konsequent nach seinem Unterhaltungswert". Nach diesem Maßstab ist "Materialermüdung" jenseits aller Debatten um den Autor lesenswert. Denn es ist äußerst unterhaltsam, wie Jacobs Vater seinen Sohn und Maya aus seinem Garten herauswirft, nachdem sie ausgerechnet einen Apfel jenes Baums verspeist haben, den er wegen des geringen Ertrags für tabu erklärt hat. Wobei dieser Vater, ein kaum verkappter "Querdenker", weder eine besonders biblische Figur noch ein Sympathieträger ist.
Die Bezüge zum Glauben sind unterdessen keine reine Staffage. Existenz und Funktion Gottes werden diskutiert, wenn auch auf eher theatralische Weise.
Witzige Schilderungen von Alltagssituationen und lakonische Feststellungen über vermeintliche Einzigartigkeit in Zeiten der sozialen Medien prägen das Buch ebenso wie warmherzige Momente. Im Hinblick auf Tiertransporte, Online-Bestellungen oder Ellbogen-Individualismus wird der Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten. Und obgleich sich Apokalyptisches ereignet: Die Coronapandemie ist auf knapp 500 Seiten kein Thema.
(kna)
Brüggemann, Dietrich: Materialermüdung, Westend Verlag, 490 S., ISBN 978-3-949671-03-6; 25,00 Euro
Autor:Online-Redaktion |
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