Familiengeschichte im Spiegel der Zeit
Schweigen beenden

Foto: ulrike-helmer-verlag.de

 Die eigene Familiengeschichte zu ergründen hat gegenwärtig Konjunktur. Hape Kerkeling erforscht seine Ahnentafel, Caroline Peters verarbeitet die Geschichte ihrer Mutter, Annette Hildebrandt die ihrer Vorfahren, Anne Rabe und Ines Geipel Gewalterfahrungen in ihren Elternhäusern.

Von Joachim Goertz

Sibylle Plogstedt, Journalistin und 1976 Mitbegründerin der feministischen Zeitschrift "Courage", war bisher bekannt von der Schilderung ihrer politischen Haft in Prag von 1969 bis 1971, die sie als Westberliner 68er erleben musste – eindrucksvoll beschrieben im 2001 erschienenen “Im Netz der Gedichte”. Mit dem reichlich sperrigen Untertitel “Vom Entdecken meiner unbekannten Großfamilie zwischen Riga, Königsberg, Prag und Berlin”, nimmt die 1945 in Berlin geborene Plogstedt die Leser mit auf eine Reise, die nach Australien und in die USA führt und bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Das Register der erforschten Familie der Autorin umfasst zehn Seiten und erinnert an die Familienstammbäume in den Romanen von Isabel Allende und Gabriel Garcia Marquez.

Zwei Fotos und ein Brief stehen am Anfang ihrer Erkundung: Das Foto zeigt ihren Vater Walter Fenske. Sie entdeckt es bereits mit sechs Jahren; seine Geschichte aber erfährt sie erst Jahrzehnte später. 1991 hat sie darüber geschrieben in “Niemandstochter”.

Im Mittelpunkt steht die Mutter Ilse Gentzen, zwischenzeitlich Sekretärin bei Alfred Bauer, dem Leiter der Berliner Filmfestspiele. Bis zu ihrem Tod im Jahre 2001 hat sie ihrer einzigen Tochter wesentliche Fragen nach ihrer Tätigkeit als Chefsekretärin hochrangiger SS- und Polizeigrößen in Bromberk und Riga lediglich mit Schweigen beantwortet. Beschwiegen werden in der Familie auch die Schicksale anderer Familienmitglieder, so die des Großvaters Felix Gentzen und seiner Rolle im Dritten Reich. Dennoch: Anschaulich schildert die Autorin ihre Kindheit in Berlin und vermittelt als studierte Soziologin überzeugende Bilder sozialer Verhältnisse in der Nachkriegszeit.

Bei so einer breiten Familienaufstellung wundert es nicht, dass auch noch ein Stasi-IM auftaucht: Werner Ostendorff, ein Verwandter der Autorin in der DDR, der über die junge Sibylle in den sechziger Jahren dem MfS wertvolle Hinweise gibt, bevor sie in Prag gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Petr Uhl verhaftet wird.
In die Bestsellerlisten wird dieses Buch vielleicht nicht gelangen, wie die von Kerkeling oder Peters. Verdient hätte es die Publikation dennoch – allein wegen der seelischen Anstrengung der Autorin, die Abgründe ihrer Familie zu erforschen und trotzdem “Zufriedenheit” zu empfinden. “Du weißt viel mehr als alle anderen”, sagte ihr am Anfang ihrer Recherche eine Psychotherapeutin. An diesem Wissen Anteil haben zu können, lässt auch zufriedene Leser zurück.

Plogstedt, Sibylle: Warum hat das niemand erzählt, Ulrike Helmer Verlag, 230 S., ISBN 978-3-89741-490-7; 20,00 Euro

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