Anzeige

NS-Zeit
In Nohra begann, was in Auschwitz endete

Der Historiker Jens-Christian Wagner ist Direktor der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora, hier auf dem Gelände der Gedenkstätte auf dem Ettersberg bei Weimar. | Foto:  epd-bild/Paul-Philipp Braun
  • Der Historiker Jens-Christian Wagner ist Direktor der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora, hier auf dem Gelände der Gedenkstätte auf dem Ettersberg bei Weimar.
  • Foto: epd-bild/Paul-Philipp Braun
  • hochgeladen von Katja Schmidtke

Fünf Tage nach dem Brand des Berliner Reichstags entstand am 3. März 1933 in Nohra bei Weimar das erste Konzentrationslager in Deutschland. 260 KPD-Angehörige wurden hier in einer alten Kaserne interniert. Heute ist es fast in Vergessenheit geraten.

Von Matthias Thüsing (epd)

An der Reichstagswahl vom 5. März 1933 durften die Häftlinge des Konzentrationslagers Nohra noch teilnehmen. Sie bescherten dem Ort den höchsten KPD-Stimmenanteil in seiner Geschichte. Ein einziger Saal ohne Betten, kaum Toiletten, keine Zäune und noch keine systematischen Misshandlungen: Nohra unterschied sich noch deutlich von den KZ späteren Typs. Doch für den Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, hat in Nohra das seinen Anfang genommen, was später in den monströsen Verbrechen von Auschwitz, Buchenwald oder Dachau gipfeln sollte.

Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 in Berlin ließen die Nationalsozialisten reichsweit etwa 45.000 Sozialdemokraten und Kommunisten verhaften. Die bestehenden Gefängnisse waren sofort überfüllt. Sammellager wurden überall im Reich eingerichtet. Das bereits seit 1930 NS-regierte Thüringen handelte als erstes - am 3. März 1933 ließ das Thüringer Innenministerium die ersten Häftlinge in die «Heimatschule Vaterland» auf dem ehemaligen Kasernengelände Nohra nahe Weimar einliefern.

90 Jahre später erinnert nichts mehr vor Ort an das damalige Konzentrationslager. Die Heimatschule wurde 1951 gesprengt, auf den Fundamenten ein Tanklager für das bis 1992 hier stationierte Hubschrauberregiment der Sowjetarmee errichtet. Nach deren Abzug wurde die militärische Liegenschaft beräumt, Gebäude eingeebnet, Flächen teilweise aufgeschüttet. Heute schweift hier der Blick über struppiges Brachland und verwachsene Wälder.

«Die Erinnerung an die vielen kleinen Lager ist wichtig»

Unter den Fundamenten des Tanklagers blieb selbst in Nohra die Erinnerung an diesen Ort jahrzehntelang verschüttet. Erst 1988 hatte die Kreisparteileitung eine Gedenktafel an den örtlichen Konsum angeschraubt. Die Botschaft folgte ganz dem sozialistischen Duktus: «In dieser Gemeinde haben die imperialistischen Machthaber im März 1933 das erste faschistische Konzentrationslager in Thüringen errichtet.» Nach dem Umweg über den Dachboden das Rathauses - der Gemeinderat hatte sie schon 1990 abnehmen lassen - hat die Tafel nun ihren Platz im Nachbarort Ulla gefunden. Hier hat der «Flugplatz Nohra e.V.» eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Liegenschaft aufgebaut.

«Die Erinnerung an die vielen kleinen Lager ist wichtig», sagt Wagner: «Nur wenn wir auf die Stätten des nationalsozialistischen Terrors vor unserer Haustür gucken, öffnet sich der Blick auf dessen dezentrale Strukturen und Verankerung in der damaligen Gesellschaft.»

Der Flugplatz-Verein will schon seit zehn Jahren die Erinnerung an dessen Ursprungsort zurückbringen. «Jetzt endlich sind die Infotafeln beim Grafiker», sagt Vorsitzender Lucas Pfannstiel. Auch das Einverständnis des Grundeigentümers liege vor. Trotzdem weiß auch er, dass das mit dem «ersten KZ» so eine Sache sei. Diese Lager seien im März 1933 nahezu zeitgleich an vielen Orten eingerichtet worden: «Es geht nicht darum, auf das erste KZ hinzuweisen. Es geht uns um den Ort als solchen und um die Erinnerung an die systematischen Verfolgungen während der NS-Zeit.»

Auch Stiftungsdirektor Wagner ist es wichtig, sich gerade an die Anfänge des Unterdrückungssystems zu erinnern. Zu oft werde die NS-Geschichte vom Ende her betrachtet. «Aber es waren eben nicht nur die Leichenberge in Auschwitz», sagt Wagner. Ebenso wichtig sei es, sich zu vergegenwärtigen, wie das System seine Macht festigen konnte und wie die Gesellschaft darauf reagiert habe. «Mit der Verhaftung der politischen Gegner erstickte das NS-Regime jeglichen Widerstand im Keim - mit Mitteln des Terrors, und dabei spielten die Konzentrationslager eine entscheidende Rolle», sagt Wagner.

Schon im Mai 1933 hatte sich die politische Lage in Thüringen für die Nazis wieder stabilisiert. Das Lager wurde aufgelöst. Viele Häftlinge waren bis dahin entlassen worden. Andere blieben in Haft und kamen später in das nahegelegene KZ Bad Sulza oder nach 1937 ins KZ Buchenwald.

Vortrag und Diskussion mit Jens Christian Wagner im Stadtmuseum Weimar: Freitag, 3. März 2023, 18 Uhr

Autor:

Katja Schmidtke

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

9 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Anzeige

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.