Reformation auf amerikanisch
Reisenotizen: Akademiedirektor Michael Haspel begab sich Anfang Oktober zu einer Vortragsreise in die USA. Für die Kirchenzeitung schildert er einige Eindrücke seines Weges »von Martin Luther zu Martin Luther King«.
Von Michael Haspel
Startpunkt meiner Reise ist Dallas. Die Stadt boomt. Texas ist zwar ein Trump-Staat, aber ich treffe niemanden, der ihn unterstützt. Selbst die konservativen Christen, denen ich begegne, sind entsetzt – nicht nur über seine vulgäre Sprache, sondern auch über seine Aussagen und seine Politik gegenüber Migranten, religiöse und andere Minderheiten.
In Texas löst das Reformationsjubiläum großes Interesse aus. Um die 100 Zuhörer sind in die Northway Christian Church gekommen, um meinen Vortrag »Here I stand and can do no other! From Martin Luther and Martin Luther King« zu hören. Der Kerngedanke: Was wir aus dem Reformationsgedenken für heute lernen können.
An meiner nächsten Station, Houston, gibt es nach dem Vortrag eine angeregte Diskussion zu aktuellen Themen: Wie kann man mit der politischen Ethik Martin Luthers und mit der an der Würde aller Menschen orientierten Ethik Martin Luther Kings auf die Herausforderungen von Rassismus, Intoleranz, (Polizei-)Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit reagieren?
New Orleans, die Stadt des Jazz, empfängt mich mit historischen Häusern und bemoosten Bäumen. Musik hat für die Bürgerrechtsbewegung eine wichtige Rolle gespielt – wie für die Reformation vor 500 Jahren auch. Für die schwarzen Kirchen waren die Spirituals, die Gospel, prägend.
Am Tag der Deutschen Einheit bin ich an das Morehouse College bei Atlanta eingeladen; eine große Ehre an der »Alma Mater« Martin Luther Kings vor und mit Studierenden und Lehrenden sprechen zu können. Die Diskussion mit den überwiegend afro-
amerikanischen Studierenden zeigt mir, dass wir im Rahmen des Reformationsjubiläums zu wenig auf den sozialgeschichtlichen Kontext der Reformation geschaut haben. Hier wird mir ganz deutlich, dass Theologie eben nie kontextlos ist.
Es ist heiß in Alabama, wo ich einen historischen Ort aufsuche: Am 11. Juni 1963 stellte sich der Gouverneur des Staates Alabama, der bekennende Rassist George Wallace, zwei schwarzen Studierenden in den Weg, die sich hier an der University of Alabama in Tuscaloosa einschreiben wollten. Erst als Präsident Kennedy Truppen der Nationalgarde an den Ort des Geschehens beorderte, gab Wallace den Weg frei.
Heute gibt es zwar keine rechtlichen Hindernisse mehr, aber trotzdem sind nur weniger als 15 Prozent der Studierenden afro-amerikanischer Herkunft. Das gilt auch für die University of Auburn, meiner weiteren Vortragsstation in Alabama. Die unterschiedliche sozio-ökonomische Situation der Schwarzen, insbesondere in Bezug auf die Qualität der Schulen, führt zu einer Bildungsbenachteiligung.
In Montgomery kamen im 19. Jahrhundert täglich mehrere Hundert Sklaven an und wurden nur einige Hundert Meter von der Dexter Avenue Baptist Church, der Kirche Martin Luther Kings, auf dem Markt verkauft. Ich frage mich, wie es für die Menschen zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung gewesen sein muss, knapp 100 Jahre nach Beendigung der Sklaverei immer noch in Unterdrückung zu leben und die Zeugnisse der Versklavung täglich zu sehen? Und weiter frage ich mich, wie dieses schreiende Unrecht über Jahrhunderte von christlichen Kirchen gerechtfertigt werden konnte? Müssten wir nicht heute deutlicher gegen Unrecht Zeugnis ablegen?
Mit dem Busboykott von 1955 wurden Montgomery und Martin Luther King zu Symbolen für den christlich motivierten Protest gegen Unterdrückung und das Engagement für Menschenrechte und Gerechtigkeit. Ein Impuls, der für unsere Kirchen und unsere Gesellschaft heute so aktuell ist wie damals.
Wenige Stunden bevor Hurrikan Nate die Region heimsucht, fliege ich dem Sturm davon. Auch nach meiner Rückkehr bin ich zutiefst bewegt und beeindruckt vom Einsatz der Schwarzen Kirchen und der Bürgerrechtsaktivisten für Gerechtigkeit und Menschenrechte. Das ist ein Ansporn für die Kirchen, sich konsequent an die Seite der Benachteiligten zu stellen, in Deutschland und weltweit!
Mir ist klar geworden, dass wir uns in der Reformationsdekade viel zu wenig mit den sozialen Verhältnissen der Menschen und mit den sozialethischen Herausforderungen und Konsequenzen reformatorischer Theologie beschäftigt haben. Das sollte in den kommenden Jahren bis zum Bauernkriegsjubiläum 2025 im Mittelpunkt stehen.
Individuelle Rechtfertigung und der Einsatz für soziale Gerechtigkeit gehören zusammen, das können wir von Martin Luther King neu lernen. Wir brauchen diese Aktualisierungen. Dann könnte das Reformationsjubiläum theologisch und praktisch Profil gewinnen, indem wir diese Tradition auch bei Martin Luther und anderen Reformatoren wiederentdecken.
Der Autor ist Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen in Neudietendorf.
Autor:Adrienne Uebbing |
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