Journalist: Evangelische Kirche biedert sich an
Verriss: Ein kirchenkritisches Lutherbuch von Uwe Siemon-Netto
Von Uwe Birnstein
Die Lutheraner sind obrigkeitshörig und die Reformierten demokratisch gesinnt. Diese Ansicht wird in verschiedenen Varianten gerne gepflegt. Die »Deutschen Christen« hingegen hingen mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre unterm Arm ihrem vermeintlich gottgesandten Führer an den Lippen und vergaßen vor lauter Obrigkeitshörigkeit, wie unchristlich und -menschlich dessen krude Ideologie war.
So war es wohl – wenn man denn verallgemeinern will oder muss. Dem in Leipzig geborenen Theologen und Publizisten Uwe Siemon-Netto gehen diese Verallgemeinerungen allerdings gegen den Strich. Er hält ihnen entgegen, der lutherische Protestantismus habe die Deutschen nicht zu »obrigkeitsduseligen Duckmäusern« gemacht – im Gegenteil. Luther sei ein »Lehrmeister des Widerstandes« gewesen. »Dieses Buch ist ein Plädoyer für den Freispruch Martin Luthers von dem stereotypen Vorwurf, der Wegbereiter Adolf Hitlers gewesen zu sein«, verspricht Siemon-Netto.
Das Vorhaben scheint ehrenwert, baut aber bei näherem Hindenken auf einer populistischen Verzerrung auf, schließlich wirft niemand Luther vor, bewusst Weichen in Richtung antisemitischer Ideologie des 20. Jahrhunderts gestellt zu haben. Dass er von den Nazis instrumentalisiert wurde, ist hingegen unbestreitbar. Sei’s drum: Die Argumente, mit denen Siemon-Netto Luther vor ideologischer Vereinnahmung schützen will, sind gar nicht schlecht. Penibel analysiert er Luthers Schriften und entmachtet das Vorurteil, Luther sei ein Fürstenknecht gewesen. Ja, es kann sich lohnen, Luther von Klischees zu befreien und noch einmal gründlich zu lesen. Und es ist erhellend zu sehen, wie fromme Männer im Geiste Luthers den Nazis die Stirn boten, zum Beispiel Carl Goerdeler oder Dietrich Bonhoeffer.
Siemon-Netto geht allerdings noch weiter. »In Wahrheit«, schreibt er, »war Luther der Lehrmeister der Résistance gegen jegliche Tyrannei.« Mit einem Augenzwinkern könnte man das behauten und Luther in ein Che-Guevara-Gewand kleiden. Bei Siemon-Netto klingt das jedoch wie undifferenzierte Lobhudelei. Ebenso seine Deutung, die friedliche Revolution sei ein »sehr lutherisches Ereignis« gewesen. Der christliche Glaube kann Menschen zweifellos darin bestärken, gegen Tyrannen vorzugehen. Aber, dass die Lutheraner da gegenüber den Reformierten oder Katholiken im Vorteil wären, ist eine bloße Behauptung.
Wie besessen schimpft Siemon-Netto auf »Kirchenführer« der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und behauptet, sie würden einen »Kotau vor dem extremen Feminismus und dem Massenmord an ungeborenem Leben« machen. Dann folgt ein Rundumschlag. Siemon-Netto prangert die Gleichstellung Homosexueller und das Gender Mainstreaming an, da die göttliche Schöpfungsordnung dadurch unterminiert werde.
Der EKD-Reformationsbotschafterin Margot Käßmann wirft er »klerikale Hypokrisie« vor, sie habe Luther nicht begriffen. »Kirchenfunktionäre« weigerten sich »gefühlsduselig«, Muslimen das Evangelium zu verkünden, und die »Tragik« der EKD bestehe darin, dass dort viele zu »bibelwidrigem Denken« zurückgekehrt seien.
Mit seinen Rundumschlägen stellt sich Siemon-Netto selbst ins Abseits und disqualifiziert sich als ernst zu nehmender Dialogpartner. Schade eigentlich.
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